Die Familie Seibold kam kurz vor dem 1. Weltkrieg nach Ulm. Sie stammte aus Mönstetten in der Nähe von Günzburg in Bayern. Der Vater, Johannes Seibold, kaufte in Söflingen das Haus Kapellengasse 25 und richtete dort sein Schuhmachergeschäft ein. Seine Kinder wurden zu aktiven Zeugen Jehovas oder standen ihnen nahe. Als die Nazis an die Macht kamen, wurden sie wegen ihrer religiösen Überzeugung unerbittlich verfolgt.
Der jüngste der Geschwister, der am 10. Februar 1903 in Nattenhausen bei Krumbach in Baden-Württemberg geborene Schuhmachermeister Johann Seibold, wurde 1937 beim Verstecken von Literatur verhaftet. Mit Unterbrechungen musste er die nächsten Jahre in Konzentrationslagern verbringen, bis er am 11. Dezember 1940 in Brandenburg a. d. Havel hingerichtet wurde. Er hatte an die Behörde geschrieben:
„Da ich auf Grund meiner Glaubensüberzeugung weder einen Waffendienst noch einen Eid leisten kann, finde ich es für notwendig, Sie frühzeitig darüber in Kenntnis zu setzen. Ich bin bereit, jede Arbeit anzunehmen, bei der ich keinen Waffendienst und keinen Eid zu leisten brauche. Ich werde trotzdem meine Arbeit ohne Eid auf das gewissenhafteste ausführen. Denn es steht in der Heiligen Schrift geschrieben: „Ihr sollt nicht schwören, weder bei Gott noch den Menschen!“ Und weiter verlangt Gott im sechsten Gebot: „Du sollst nicht töten!“ Da ich nun schon viele Jahre bestrebt bin, Gott zu dienen und mich an seine Gebote zu halten, ist es mir unmöglich, diese Gebote zu übertreten, denn sie allein sind die Richtschnur meines Handelns.“
Sein Neffe Konni, der am 9. Juli 1922 in Ulm geborene Konrad Seibold jun., entschied sich in den Monaten danach zur Verweigerung des Wehrpasses und Nichtannahme des Gestellungsbefehls und wurde im August 1941 verhaftet. Konni wohnte mit seinem Vater, dem Maschinenformer Konrad Seibold sen., in der Uhrenmachergasse 23 in Söflingen, gleich um die Ecke von der Kapellengasse. Der Vater hatte seinen Sohn seit vielen Jahren in der biblischen Lehre unterrichtet. Konni wurde von dem Reichskriegsgericht am 27. Februar 1942 wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode verurteilt und am 28. März 1942 in Brandenburg a. d. Havel hingerichtet.
Sechs Monate später am 31. Oktober 1942 gab es zwei weitere Verhaftungen aus der Familie: Konnis Vater und sein Onkel Josef Seibold (geboren am 4. Oktober 1886 bzw. am 10. März 1891, beide in Mönstetten). Sie wurden am selben Tag zusammen in das KZ Welzheim und später nach Dachau gebracht. Gemäß dem Mithäftling Wilhelm Bechtle wurde Josef Seibold in Welzheim „sehr schikaniert“. Vom 10. März 1943 bis 17. August 1944 ist ihre Haft im KZ Dachau belegt: sie hatten die Häftlingsnummer 46453 bzw. 46454.
Zum 18. August 1944 sind sie im Häftlingszugangsbuch des KZ Mauthausen in Österreich als Eingang eingetragen, mit den Häftlingsnummern 90218 bzw. 90317. Dort wurden sie als Sklavenarbeiter in der Eisenhütte der Hermann-Göring-Werke in Linz eingesetzt. Immer wenn Jehovas Zeugen im KZ Mauthausen ankam, erklärte der gefürchtete Hauptscharführer Spatzenegger: „Kein Zigeuner und kein Bibelforscher wird hier lebend wieder herauskommen!“ Und Konrad Seibold sen. kam nicht wieder lebend heraus. Er ‚verstarb‘ im Nebenlager Linz III am 14. April 1945, ganze drei Wochen vor der Befreiung des Lagers. Als Todesursache wurde im peinlich genau geführten Totenbuch fein säuberlich eingetragen „Herzschwäche Collaps“. Tatsächlich war er verhungert.
Josef Seibold überlebte und wurde Anfang Mai 1945 durch amerikanische Soldaten befreit. Er kehrte anschließend nach Ulm-Söflingen zurück und verstarb im Jahr 1978.
Die Schwester der drei Seibold-Brüder, Barbara Seibold (geb. 13. August 1897 in Nattenhausen, Hutnäherin von Beruf), wurde zeitgleich mit Eugen Stark (Vater von Jonathan Stark) am 13. Dezember 1943 in Ulm festgenommen. Von Anfang an, gab sie zu verstehen, dass sie nicht den Ernsten Bibelforschern, d. h. Zeugen Jehovas angehöre. Wie auch dem Vater von Jonathan wurde auch ihr – so die Aussage ihrer Schwester Viktoria – von der Gestapo vorgeworfen, sie habe „den jungen Stark beeinflusst, und ihm gesagt, er solle nicht zum Arbeitsdienst (RAD) gehen“. Jedenfalls nahm Barbara Seibold an den biblischen Gesprächen im Hause Seibold teil und könnte gemeinhin als „Sympathisantin“ bezeichnet werden.
Jonathan Stark muss wohl bereits eine ganze Zeit vor seiner Einberufung bei Seibolds über den bevorstehenden Arbeitsdienst gesprochen haben und geäußert haben „er ginge nicht“. Dies muss wohl Barbara Seibold positiv kommentiert haben, offensichtlich mit den Worten „Bub, das tust du nicht“. Im Verlauf der Verhöre, denen Joni Stark ausgesetzt war, muss dieser wohl etwas über die Kontakte von Familie Stark zu Familie Seibold geäußert und den Namen von Barbara Seibold genannt haben und, dass diese seine Entscheidung ebenfalls für gut befunden habe.
Eugen Stark begegnete Barbara Seibold im Dezember 1943 im Ulmer Untersuchungsgefängnis in der Gefängnisküche. Er nahm an, sie sei „wegen ihrer Brüder… in Haft genommen worden“. Er gewann aber den Eindruck, ihre Verhaftung könnte sehr wohl auch etwas mit der Verhaftung seines Sohnes zu tun haben oder mit dem, was dieser gegenüber den Verhörenden offenbart haben könnte.
Einige Wochen nach der Festnahme in Ulm wurde Barbara Seibold nach Stuttgart gebracht, danach war sie für drei Wochen im KZ Rudersberg (ein Frauenlager bei Welzheim). Im Februar 1944 wurde sie auf „Anordnung Berlins“ in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überführt. Sie erhielt die Lagernummer 29210 und den roten Winkel für politische Häftlinge (und nicht den lila Winkel für Zeugen Jehovas). Ihre Befreiung erfolgte am 27. April 1945 beim Anrücken der russischen Armee in Schwerin. Dort waren bis zu diesem Datum weibliche Gefangene in der Hindenburg Kaserne untergebracht. Dies bedeutet, dass Barbara Seibold auf einem der berüchtigten Todesmärsche von Ravensbrück nach Schwerin (etwa 180 km) gelangte.
Barbara Seibold pflegte nach Kriegsende und ihrer Rückkehr nach Söflingen weiterhin Kontakt zu den Ulmer Zeugen Jehovas, wurde jedoch bis zu ihrem Tode 1985 kein getauftes Mitglied dieser Gemeinde.
Autor: Hans Sautter