Bertha Rabausch wurde am 19. Oktober 1874 in Ulm als zweite Tochter des Werkmeisters Johannes Rabausch und seiner Frau Frida Rabausch geb. Sautter geboren. Ihre Schwester Johanna war ein Jahr älter. Ihnen wurde als Kleinkindern eine gute körperliche und geistige Gesundheit attestiert. Ihr Vater war als gutmütiger und sorgsamer Mensch bekannt, der viel arbeitete, manchmal bis tief in die Nacht. Die Familie wohnte in der Ulmer Neustadt, zuerst in der Ensingerstraße and dann in der Neutorstraße. Damals beherrschten Industrie, Eisenbahn und Kasernen das Straßenbild der Gegend.
Schon kurz vor Berthas Geburt begann sich allerdings das Familienbild einzutrüben, da ihr Vater erste Anzeichen psychischer Probleme zeigte. Nach der Geburt von Berthas Bruder 1876 verlor er zunehmend die Verbindung zur Realität. Als Berthas Mutter Frida den Arzt um Rat fragte, forderte dieser sie „kategorisch“ auf, ihren Mann „in eine Irrenanstalt [sic!] zu bringen“, da eine Behandlung in der Familie „nicht statthaft“ sei.[†] Frida sträubte sich lang dagegen aber Ende 1878 und kurz nach dem Tod des kleinen Sohnes wurde Berthas Vater doch in die Heilanstalt Schussenried eingewiesen. Er blieb dort bis zum Ende seines Lebens 1896.[‡]
Mutter und Töchter bezogen jetzt eine Wohnung in der Ensingerstraße 23 an der Ecke Karlspatz. Mitte der 80er Jahre zogen sie wieder um, diesmal in die naheliegende Schaffnerstraße. Von Bertha wurde berichtet, dass sie eine gute Schülerin war und viel Geschick bei „weiblichen Handarbeiten“ gezeigt hat. Man attestierte ihr auch einen „unbeugsamen Eigenwillen“. Allerdings fand man sie etwas eigenartig und meinte sie würde „die Einsamkeit bevorziehen“. Körperlich litt sie nie unter einer ernsthaften Erkrankung.
Bertha nutzte ihr handwerkliches Geschick und muss wohl eine Lehre als Modistin (Hutmacherin) gemacht haben. Anschließend ging sie im Alter von ca. zwanzig Jahren nach Stuttgart, um eine Stelle als Modistin in einem Putzmachergeschäft anzutreten. Dort begann sie erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung bei sich zu bemerken. Am Anfang waren es relativ harmlose Geruchshalluzinationen. Später wurden diese sehr unangenehm für sie und sie gab die Stelle auf.
Sie fand eine neue Stelle in Bingen am Rhein und zog dorthin. Nun erlebte sie erstmals ernstere Symptome, hörte Stimmen und glaubte verfolgt zu werden. Heute würden Ärzte diese Symptome einer Krankheit aus dem schizophrenen Formenkreis zuordnen. Als sie Anfang April 1898 zurück zu ihrer Familie in Ulm (jetzt in der Karlstraße 63) fuhr, begann sie ihre Mutter und Schwester zu beschuldigen und fühlte sich bedroht. Zum Schluss fühlte sie sich derartig verfolgt, dass sie eine Waffe in die Hand nahm. Anfang Juni wurde sie ins Krankenhaus in Ulm gebracht und drei Wochen später willigten Mutter und Schwester in ihre Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Schussenried ein.
Dreißig Jahre lang blieb Bertha in der Heilanstalt in Schussenried. Anhand der Patientenakte kann man in dieser Zeit keine nennenswerte medizinische Maßnahme erkennen. Weder ist es heute für uns noch war es damals für sie immer klar, wo die Grenze zwischen Therapie auf der einen Seite und Aufbewahrung bzw. Ruhigstellung auf der anderen Seite lag. Sie hatte schon in Ulm eine Verabreichung des Sedativums Trional als einen Versuch sie zu vergiften abgelehnt. Damit schied die damals häufig verwendete „Schlaftherapie“ aus. Nachdem die monatlichen Notizen der Krankenakte in den ersten Jahren von seltenen Phasen der Aktivität mit Briefeschreiben und Gesprächen und häufigeren Phasen der Nahrungsverweigerung berichteten, zog sich Bertha in den folgenden Jahren überwiegend in ihre eigene Welt zurück.
Bei gelegentlicher Anreise ihrer Mutter und Schwester sprach Bertha meistens nicht. Die Besuche wurden seltener und möglicherweise hörten sie irgendwann auf. Trotzdem wurde berichtet, dass sie sich immer freute, wenn Mutter und Schwester ihr Essenspakete schickten. Auf Briefe der Mutter an den Anstaltsdirektor in Schussenried mit der „Bitte um gefällige Nachricht über den Krankheitszustand meiner Tochter“ wurde immer wieder geantwortet: „Im geistigen Verhalten Ihrer Tochter ist seit langer Zeit keine Änderung eingetreten …“
In Ulm ging das Leben der Familie weiter. 1908 konnten sie mit Aussicht auf neue, hoffnungsvollere Zeiten Johannas Hochzeit feiern. Zusammen mit ihrer Mutter zog Johanna zu ihrem Ehemann in eine Neubauwohnung in der Küfergasse 1. Dort gründete sie eine Familie. Mutter Frida, die Mann und Tochter an eine damals noch völlig unheilbare psychische Krankheit verloren hatte, starb 1921.
Bei den allermeisten Patienten der damaligen Heilanstalten überwogen nach vielen Jahren die Auswirkungen der Institutionalisierung und Entpersonalisierung. Bei Bertha war es nicht anders und am Ende dieses Verlaufs im Juni 1927 steht in ihrer Krankenakte „… eine geistige Ruine…“ Wie der Satz in dem Krankenakteneintrag weitergeht wirft aber ein grelles Licht weniger auf Berthas traurigen Zustand, als auf die menschenverachtende Art des Umgangs mit den Patienten: „… mit leeren Gesichtszügen, lebt blöde [sic!], still, untätig dahin.“
Am 4. März 1929 wurde die nun 54-jährige Bertha Rabausch in die Landesfürsorgeanstalt Oberer Riedhof vor den Toren Ulms überführt. Dabei spielte möglicherweise der Wunsch bei der Klinikleitung, „austherapierte“, scheinbar hoffnungslose Patienten zu entfernen, um Platz und Mittel für die Behandlung mit neuen Therapieansätzen zu erhalten. Dieser, insbesondere bei jüngeren, wissenschaftlich fortschrittlichen Ärzten befürwortete Ansatz wurde später von den Nazis ausgenutzt, um die „Verlegung“ von Patienten bei der T4-Aktion zu erklären.
Wie bei vielen Bewohnern vom Oberen Riedhof gibt es auch für Bertha Rabausch keine Krankenakte oder sonstige Überlieferung von dort. Sie wurde wahrscheinlich gepflegt und lebte weiter wie in Schussenried, ohne an den Arbeitsaufgaben und Aktivitäten des Riedhofs teilzunehmen. Als 1939 die Fragebögen der mit der Durchführung der Euthanasie-Morde des T4-Programms beauftragten Reichsarbeitsgemeinschaft „Heil- und Pflegeanstalten“ ausgefüllt wurden, passte Bertha genau zu deren Auswahlkriterien für die geplante Vernichtung: psychisch schwer erkrankt und bei der Arbeit nicht einsetzbar.
Am 23. August 1940 wurde sie auf Anordnung der T4 „Euthanasie“-Zentrale in Berlin mit 39 weiteren Bewohnern des Oberen Riedhofs abgeholt und am selben Tag in Grafeneck vergast.
Autor: Mark Tritsch
Quellen:
Stadtarchiv Ulm Familienregister Rabausch 4/1375
Krankenakte Bertha Rabausch, StS Wü 68/1 T 1 R (1925-1932)
Krankenakte Johannes Rabausch StS Wü 68/1 T 1 Nr. 5827
Adressbücher Ulms
Archiv Tannenhof, Oberer Riedhof Personalbuch für Frauen
StS: Staatsarchiv Sigmaringen
[†] Zitiert aus dem Brief des Arztes an die Heilanstalt.
[‡] In der Krankenakte wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alle anderen Mitglieder der elterlichen Familie von Johannes Rabausch vollkommen gesund waren. Die hier erwähnte Krankheit gefährdete nur ihn und seine inzwischen ausnahmslos nicht mehr lebenden Nachkommen.