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Emmy Frankfurter

Stolperstein Parkstraße 2 (GPS 48.402990, 9.998868)

 

Emmy Frankfurter, aufgenommen September 1940, kurz vor der Abreise ihrer Angehörigen in die Emigration. Das Foto hat Hannie bis heute auf ihrem Schreibtisch stehen. (DZOK-Archiv)

Emmy Frankfurter, aufgenommen September 1940, kurz vor der Abreise ihrer Angehörigen in die Emigration. Das Foto hat Hannie bis heute auf ihrem Schreibtisch stehen. (DZOK-Archiv)

Fast sechzig Jahre alt und unter dem Druck der NS-Verfolgung der Juden in den späteren 1930er Jahren zog Emmy Frankfurter nach Ulm, um in der Nähe ihrer Tochter zu sein. Während diese dann mit ihrer Familie in die USA fliehen konnte, fand sich keiner dort, der für Emmy eine Bürgschaft übernehmen wollte. Sie wurde nach Izbica deportiert und in einem der Vernichtungslager ermordet.

Zwei von Emmy Frankfurters Brüdern, die noch in ihrem Geburtsort Bad Sobernheim wohnten, sind wohl schon vor den systematischen Deportationen Opfer nationalsozialistischer Gewalttaten geworden: ein Bruder sei in der NS-Zeit die Treppen seines Hauses hinabgestürzt worden und daran gestorben. Ein weiterer Bruder sei 1936 als Kommunist ins KZ Dachau gekommen, wo er im selben Jahr gestorben sei (vgl. Bergmann, S.58).

Als Tochter des Metzgers und Kaufmanns Isac Metzler und seiner Frau Charlotte, geb. May, kam Emmy am 31.7.1878 in Sobernheim an der Nahe (heute Bad Sobernheim, Landkreis Bad Kreuznach in Rheinland-Pfalz), zur Welt. Ihr Mann Eugen Frankfurter starb schon 1912 in Dillingen an der Saar, wo er ein Geschäft führte und sie einen gemeinsamen Haushalt gegründet hatten. Zunächst führte sie dort das Geschäft ihres Mannes weiter.

Emmys einzige Tochter Hilde wurde 22.6.1903 in Dillingen geboren. Hilde Frankfurter ging als Mädchen ins Internat Rothschild in München und machte dort ihren Schulabschluss. Eine Mitschülerin war Carrie Baer, durch die sie deren Bruder Felix kennenlernte.

Hilde und Felix Baer auf Hochzeitsreise, nachdem sie am 26.Dezember 1923 geheiratet hatten. ("Child of Two Worlds", S. 112)

Hilde und Felix Baer auf Hochzeitsreise, nachdem sie am 26.Dezember 1923 geheiratet hatten. („Child of Two Worlds“, S. 112)

Dieser 4.7.1894 im hohenlohischen Künzelsau geborene Felix Baer war Getreidehändler aus einer mindestens seit 1810 dort als Getreidehändler ansässigen Familie. Felix und Hilde heirateten am 26. Dezember 1923 in Dillingen/Saar, da war Hilde 20 und Felix 29 Jahre alt. Unmittelbar nach der Hochzeit ließen sich die Baers in Ulm nieder, zunächst in der Karlstraße. Ihre einzige Tochter Hanne-Lore, genannt  Hannie, wurde am 30.12.1925 in Ulm geboren. Sie lebt heute (Sommer 2016) in Albion in Nebraska, USA.

Kurz nach Hannies Geburt zogen die Baers Anfang 1926 um in die Krafftstraße 11, wo sie im 2. Stock bis zu ihrer Flucht 1940 wohnten. Das Haus wurde im Krieg zerstört. Die Krafftstraße war eine heute nicht mehr existierende Seitenstraße zur westlichen Olgastraße. In dem Haus lebten in drei Stockwerken sieben Parteien, außer den Baers nur Christen. Der Vater betrieb in der Wohnung als Teilhaber seines Bruders Jakob die Ulmer Filiale des gemeinsamen Getreidehandels-Geschäftes, dessen Hauptsitz in Künzelsau war. Felix hatte fünf Geschwister, die wichtige Bezugspersonen für Hannie vor und nach der Emigration waren. Vier der Geschwister emigrierten rechtzeitig in die USA.

Am Anfang dieser Zeit (in den 20er Jahren) arbeitete Emmy als Geschäftsfrau, u.a. auch in einer Bäckerei in München. Danach zog sie nach Künzelsau, in die Nähe der Familie ihres Schwiegersohnes Felix Bär. Kurz vor ihrem 59. Geburtstag zog Emmy Frankfurter zum 1.6. 1937 von Künzelsau nach Ulm, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. Emmy Frankfurter  wohnte aber zunächst mit Charlotte Baer, der Mutter ihres Schwiegersohnes aus Künzelsau, in der Parkstraße 2. Diese konnte 1939 ins Ausland fliehen und danach wohnte Emmy mit der Familie ihrer Tochter in der Krafftstraße.

Großmutter Emmy mit Hannie, am Tag von deren Geburt, in Ulm am 30. Dezember 1925. ("Child of Two Worlds", S. 113)

Großmutter Emmy mit Hannie, am Tag von deren Geburt, in Ulm am 30. Dezember 1925. („Child of Two Worlds“, S. 113)

Wohl die letzte Person, die genaue Erinnerungen an Emmy Frankfurter und ihre Enkelin Hannie hat, ist Ruth Young, geborene Laupheimer,  die 1921 in Ulm geboren wurde, in den 30er-Jahren nach England emigrieren konnte und heute in Sidcup, Süd-England, lebt. Sie schrieb im August 2016:

„An die Omi von Hannie kann ich mich so sehr erinnern. Sie liebte ihre Enkelin und hat sie immer gefüttert, weil sie nicht essen wollte und sehr zart war. Omi Frankfurter war eine feine Dame. Immer mit Hut und Handschuhen. Sie war die erste, die im Auto saß, wenn ihr Schwiegersohn Felix Baer am Sonntag-Nachmittag zum Kaffee-Trinken ausgefahren ist. Meine Eltern und die Baers waren die besten Freunde und ich musste immer auf Hannie aufpassen, weil ich ein paar Jahre älter war.“

Emmys Schwiegersohn Felix wurde in der Ulmer Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 aus dem Bett geholt, am Weinhof schwer misshandelt und für sechs Wochen ins KZ Dachau transportiert. Seelisch gebrochen kehrte er zurück. Am 15. September 1940 verließ er mit Frau und Tochter Ulm und erreichte (über Berlin, Moskau, die Mandschurei/ China und Japan) am 1. November Seattle an der Westküste der USA.  Um die Jahreswende 1940 ließen sie sich in Denver/Colorado nieder.

Emmy Frankfurter emigrierte nicht, weil sie keinen Bürgen in den USA hatte. So musste sie zwangsweise zum 1.11. 1940 in das „Judenhaus“ Neutorstraße 15 umziehen. Am Sonntag, 26. April 1942 wurde Emmy Frankfurter von Ulm aus über Stuttgart ins Sammellager Izbica (Distrikt Lublin) und von dort in ein Vernichtungslager deportiert, wahrscheinlich nach Belzec. Wohl am 3. November 1942 schrieb sie von irgendwo im Osten: „Dies sind meine letzten Zeilen an euch. Ich gehe ins Unbekannte. Mir geht’s gut…“. Wann und wo Emmy Frankfurter letztlich gestorben ist, d.h. ermordet wurde, ist unbekannt. Sie wurde nach Kriegsende zum 31.12. 1945 für tot erklärt.

Der Schwiegersohn Felix Bär starb am 30. Juni 1963 in Denver, Colorado. Ihre Tochter Hilde starb 1994 mit 90 Jahren in Albion, Nebraska.

Zeugnisse, Zitate und Erläuterungen zu Emmy Frankfurter und der Familie ihrer Tochter

Die Enkelin von Emmy Frankfurter, die am 30. Dezember 1925 in Ulm geborene Hannie, verwitwete Wolf, überließ in den vergangenen 25 Jahren dem Ulmer Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg authentische Quellen und Zeugnisse zur eigenen Biographie und auch zu den Biographien ihrer Eltern und ihrer „Oma“ Emmy Frankfurter.

Das ist einerseits das autobiographische Buch von Hannie Wolf, „Child of Two Worlds“ (Kind zweier Welten), Nebraska 1979. Hannie hatte Bill Wolf , Farmer aus der Nähe von Albion in Nebraska, am 29. März 1947 geheiratet, er starb dort 1979. Sie ist heute (Sommer 2016) 90 Jahre alt. Sie lebte seither in Ihrem Haus in Albion, seit wenigen Jahren dort in einem Altenheim.

Und das sind andererseits und vor allem 30 handschriftliche, nun transkribierte Briefe von Emmy Frankfurter aus Ulm im Jahr 1941 an ihre „geliebten Drei“. Diese lebten seit November 1940 in Denver/ USA. Emmy, mittlerweile 63 Jahre alt, lebte in einem der fünf Ulmer  „Judenhäuser“, dem in der Neutorstraße 15.

 

Hannie Wolfs Ulmer Kinderjahre in Ulm, aus ihrer Autobiographie

Die fünfjährige Hannie mit ihrer Mutter, 1930. ("Child of Two Worlds", S. 122)

Die fünfjährige Hannie mit ihrer Mutter, 1930. („Child of Two Worlds“, S. 122)

„Ich verlebte eine Ulmer Kindheit wie aus dem Bilderbuch. Fischerstechen, Schwörmontag, Nabada, Ulmer Schachtel, der fliegende Schneider Berblinger, der Ulmer Nebel, Linsen mit Spätzle: das sind unauslöschliche Bestandteile meiner Erinnerung. Ebenso wie die Gerüche von Most und Sauerkraut am Ulmer Wochenmarkt und die Orgelmusik im Münster.

Meine ersten Freundinnen waren Christenmädchen aus der Nachbarschaft […]. Bei ihren Familien feierte ich Weihnachten und Ostern, während die Freundinnen bei uns zu Hause Chanukka und Pessach feierten.“

Hannies erster Schultag in der Kepler-Schule, das war die Evangelische Mädchen- Grund- und Volksschule in der Keplerstraße 1, 21. April 1933. ("Child of Two Worlds", S. 124).

Hannies erster Schultag in der Kepler-Schule, das war die Evangelische Mädchen- Grund- und Volksschule in der Keplerstraße 1, 21. April 1933. („Child of Two Worlds“, S. 124).

„ In jedem Bereich unseres Lebens waren wir Deutsche. Unser Judentum beschränkte sich auf das Religiöse, genauso wie bei unseren christlichen Nachbarn. Unsere Kontakte entwickelten sich nicht rund um die Synagoge. Dort waren wir nur zum Gottesdienst. Unsere Freunde kamen aus allen Lebensbereichen, jüdischen, katholischen, protestantischen.

Doch schon bald nachdem die Nazis zur Macht gekommen waren und nun die Juden für jedes Unglück der Deutschen verantwortlich gemacht wurden, wurde auch der Kreis unserer Freunde kleiner. Meine Freundschaft jedoch zu Rosmarie  und Fanny blieb von allem unberührt. Wir hatten unsere geheimen Treffpunkte und schworen uns, daß niemand jemals unsere Freundschaft zerstören könnte.“

„Ich war sehr innig mit meiner Großmutter verbunden, ich war das einzige Enkelkind. Ich bin oft spazieren gegangen mit meiner Oma. Wir waren in einem Garten-Café, oft mit Frau Klein, Frau Gumpp. Unsere Nachbarn, die Steiners, Strassburgers und Noerdlingers waren gut befreundet mit uns. Ich glaube, alle sind sie im Holocaust umgekommen… Manchmal, wenn ich an meine Kindheit denke, meine ich, alles war nur ein böser Traum“.

„Papa, der kein Blatt vor den Mund nahm, wurde eines Tages denunziert und danach verhaftet. Und das kam so. Er war in einem Café, als überlaut eine Hitlerrede ertönte. Er bat darum, daß das Radio ausgestellt werde, da er es nicht aushalten könne, den Idioten zu hören.[…]

Die Gestapo, die geheime Staatspolizei, kam nun häufig in unsere Wohnung. Immer nachts, immer völlig unangesagt. Sie läuteten, schlugen die Hacken zusammen und durchsuchten unsere Räume. Einmal nahmen sie die Taschenuhr meines Großvaters mit. […] Viele Jahre danach noch jagte das Klingeln einer Türglocke kalte Schauer über meinen Rücken und ich begann zu zittern beim Anblick eines Polizisten.“

„Für Papa wurde es zunehmend schwieriger, geschäftlich mit seinen christlichen Kunden in Kontakt zu bleiben, da die meisten Angst vor Repressalien hatten. Wir jüdischen Kinder gewöhnten uns daran, nur noch in Gruppen zu gehen, denn es war sicherer so. Es war nicht ungewöhnlich, als ‚dreckige Juden’ bezeichnet oder auch bespuckt und mit ordinären Ausdrücken beschimpft zu werden.“

„Irgendwie hielten wir das geduldig aus und gingen weiter aufrecht. Wir bildeten unsere eigenen Sportorganisationen und in unseren Musik-Gruppen spielten wir amerikanischen Jazz. Und da war auch das Theater, das unsere Phantasie zum Leben erweckte. Alle von uns lernten zu schauspielern.“

Hannie muß im Frühjahr 1936, nach dem dritten Schuljahr die Kepler-Schule, die nun zur „Deutschen Volksschule“ erklärt wurde, als Jüdin verlassen.

„Von nun an wurden die jüdischen Kinder im Jüdischen Gemeindehaus neben der Synagoge am Weinhof, und zwar von jüdischen Lehrern unterrichtet. Wir waren insgesamt etwa 35 Kinder. Wir begannen ein ghettoartiges Leben zu führen, doch wir Kinder fühlten uns nicht benachteiligt.“

Ihr letzter Lehrer, Siegmund Zodick, gab ihr am 29. Februar 1940 eine Art Entlassungszeugnis aus der Ulmer jüdischen Schule. Und Hannie schreibt:

So endete meine Ulmer Schulzeit. Sie hatte ganze sieben Jahre gedauert.“

„Die Synagoge wurde unser Zufluchtsort. Im Hauptgeschoß saßen die Männer in der Mitte, die Kinder an den Seiten. Die Frauen saßen auf dem Balkon. Mit meiner Mama sang ich im Synagogen-Chor.“

Hannie Baer am 1. September 1939, am Tag des Beginns des Zweiten Weltkriegs. Das Foto ist aufgenommen in der Ulmer Steinhövelstraße 5, vor dem Haus von Rosa und Wilhelm Lebrecht. Hannie schreibt: „Wir feierten an diesem Tag Wilhelms 59. Geburtstag. Mitten in der Feier hörten wir vom Kriegsausbruch. Da verging uns die Feier-Stimmung , was auch der ernste Ausdruck auf meinem Gesicht zeigt. Ich trug ein modernes Dirndl, samt neuer Frisur und neuen Schuhen.“ ("Child of Two Worlds, S. 131).

Hannie Baer am 1. September 1939, am Tag des Beginns des Zweiten Weltkriegs. Das Foto ist aufgenommen in der Ulmer Steinhövelstraße 5, vor dem Haus von Rosa und Wilhelm Lebrecht. Hannie schreibt: „Wir feierten an diesem Tag Wilhelms 59. Geburtstag. Mitten in der Feier hörten wir vom Kriegsausbruch. Da verging uns die Feier-Stimmung , was auch der ernste Ausdruck auf meinem Gesicht zeigt. Ich trug ein modernes Dirndl, samt neuer Frisur und neuen Schuhen.“ („Child of Two Worlds, S. 131).

Die antisemitischen Attacken machten vor keinem Juden halt. Nach dem Geschäfts-Boykott am 1.April 1933 wurde im Juli 1935 die größte antisemitische Propaganda-Aktion Ulms in den Jahren des Nationalsozialismus durchgeführt: das in einer Auflage von 15.000 Stück herausgekommene Mitteilungsblatt der regionalen NSDAP verkündete u.a.: „Der Jude ist nichts anderes als der Teufel in Menschengestalt“. Und: „Wer den Juden liebt, den hassen wir.“

Im größten Hetzblatt der Nazi-Zeit , dem in Nürnberg herausgegebenen „Stürmer“, wird im Frühjahr 1935 unter der Überschrift, „Was geht in Ulm vor?“, Vater Felix Bär namentlich genannt und als „Judenhäuptling Bär“ verächtlich gemacht. Der Artikel hing tagelang in den Ulmer Schaukästen des „Stürmer“ aus und wurde auch im Ulmer Tagblatt zustimmend aufgegriffen.

Felix Baer war im 1. Weltkrieg von 31. 5. 1915 bis 30.8. 1918 Infanterie-Soldat im deutschen Heer gewesen und hatte dafür am 11. September 1935 das „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ bekommen, das Reichspräsident Hindenburg am 13. 7. 1934 gestiftet und gegen die Nazis durchgesetzt hatte.

Die sogenannte „Reichskristallnacht“, Anfang November 1938, und das heißt, die öffentliche Demütigung jüdischer Menschen, die Zerstörung vieler Geschäfte und die Schändung der Synagoge fand auch in Ulm statt und griff tief ins Leben der Bärs ein.

„Wie Dutzende anderer Ulmer Juden wurde auch mein Vater aus dem Bett geholt und im Schlafanzug zur Polizei und dann zum Weinhof getrieben. Dann wurde er ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Dort hatte er eine traurige Begegnung mit seinem Bruder Sigbert, der von Künzelsau auch dorthin gebracht worden war. Wohl weil Papa deutscher Soldat im 1. Weltkrieg gewesen war, wurde er im Dezember, am ersten Tag der Chanukka-Feiertage, freigelassen. Papa war mager und eingefallen als er aus Dachau kam. Er litt an Furunkulose, sein Körper war geschändet und sein Geist gebrochen. Von dieser Zeit an wurde er immer stummer und lebte schweigend vor sich hin. Vielleicht wollte er uns schonen, aber er sprach nie über das, was er in Dachau erlebt hatte – bis zu seinem Tod.“

Vater Felix Bär starb am 30. Juni 1963 in Denver/Colorado. Die gesteuerten Krawalle des November-Pogroms waren nur ein Vorwand für die unmittelbar folgende Enteignung bzw. Auflösung aller Geschäfte von Juden und die Teilenteignung des Vermögens bis Ende des Jahres.

„Ende 1938 wurde Vater endgültig gezwungen sein Geschäft aufzugeben; er mußte nun in einer Gärtnerei in Söflingen [Gärtnerei Rampf] arbeiten. Ein Großteil des Familienbesitzes wurde beschlagnahmt, genauso wie das Auto“.

Hannie, Felix und Hilde Baer. Es ist das letzte Familienfoto vor der Emigration nach Amerika, aufgenommen in Berlin, einige Tage nach der Abreise aus Ulm, im September1940. ("Child of Two Worlds", S. 136).

Hannie, Felix und Hilde Baer. Es ist das letzte Familienfoto vor der Emigration nach Amerika, aufgenommen in Berlin, einige Tage nach der Abreise aus Ulm, im September 1940. („Child of Two Worlds“, S. 136).

Auf die deutschen Juden, nachdem sie entrechtet und ausgeplündert waren, wurde nun größter Druck ausgeübt, Deutschland zu verlassen. Aber die nötigen deutschen Papiere und  die Einreisevisa zu bekommen, war äußerst schwierig. 

„Ein Cousin meines Papas, der schon längere Zeit in den USA lebte, leistete eine Bürgschaft, ein sogenanntes Affidavit, sodass wir 1939 einen Einreiseantrag in die USA stellen konnten. Das Affidavit hatte den Sinn, die Flüchtlinge im Notfall nicht von der staatlichen Fürsorge abhängig zu machen.“

Nach monatelangem Anträgestellen und Warten auf Visa war es Mitte September 1940 endlich so weit:

„Am Samstag-Abend des 14. September nahm ich Abschied von meiner Freundin Rosmarie. Am nächsten Tag kam der endgültige  Abschied am Ulmer Bahnhof. Onkel Sigbert, der Bruder des Vaters, und dessen Frau Liesl aus Künzelsau und natürlich die Oma Emmy standen am Bahnsteig. Wir beide fühlten, daß es ein Abschied auf Nimmerwiedersehen war. Oma gab mir ein ledergebundenes Tagebuch mit der Widmung:

‚Für meine einzige Enkelin zur Erinnerung. Gott segne Dich, mein liebstes Kind. Möge Gott dich nur gute Dinge  in das Buch schreiben lassen.

Ulm, am Tag Deiner Abreise,

Deine treue Großmutter Emmy Frankfurter’“.

Die Reise von Ulm über Moskau und Japan  bis zum Ankunftsort Seattle dauerte 46 Tage und war ein vielfach auf Spitz und Knopf stehendes, nur mit Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen zu bewältigendes  Abenteuer.

Rückblickend schreibt Hannie Baer-Wolf in ihrer Autobiografie:

„Ich nannte meine Großmutter „Oma“. Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich war ihre einzige Enkelin, und wir hatten eine warme Beziehung zueinander. Ich war ein etwas ängstliches, nicht sehr kräftiges Mädchen, ich war eine Träumerin und liebte es, kleine Gedichte und Geschichten zu schreiben. Die Wörter flossen mir leicht aus der Feder und ich wollte eines Tages Schriftstellerin werden. Oma ermutigte mich bei solchen Plänen. Da sie aber auch Nadel und Faden zu gebrauchen wußte, lernte ich von ihr Stricken und Häkeln“.

 In einem ersten Brief an die Großmutter schreibt Hannie noch im Zug:

„Das Münster verschwand im Regen. Dicke Tränen standen mir in den Augen. Wie viele glückliche und traurige Stunden in Ulm hab ich verlebt. Ich bin so traurig. Leb wohl, liebe Oma, schlaf gut.“

Warum Emmy Frankfurter nicht emigrierte, erklärt Hannie Baer-Wolf in einem Brief vom 11. Dezember 1999 :

„Als wir 1939 die Visa beantragten, gab die amerikanische Regierung nur Visas für Immigranten, die Blutsverwandte in den USA hatten. Mein Vater hatte viele Verwandte, weshalb er, seine Frau und ich Visa bekamen. Meine Oma hatte aber nur einen entfernten Verwandten, dessen Adresse uns nicht mehr bekannt war. […]Meine Mutter wollte zuerst nicht nach Amerika, weil ihre Mutter nicht mitkonnte. Da sagte meine Oma zu ihr: du mußt an dein Kind denken, du mußt mit ihm und deinem Mann nach Amerika.“

 

Aus Emmy Frankfurters Briefen aus dem Jahr 1941

Emmy Frankfurter schrieb wöchentlich mehrmals  Briefe an ihre drei engsten Angehörigen vom Tag von deren Emigration (15. September 1940) bis zu ihrer Deportation aus Ulm am 26. April 1942, und auch noch danach, wo immer das möglich war. 30 Briefe, handschriftlich geschrieben auf dünnem Luftpostpapier zwischen 27. April 1941 und 19. November 1941, sind erhalten. Da war Emmy Frankfurter 63 Jahre alt und ihre „lieben Drei“ waren schon fast ein Jahr weg. Briefe der emigrierten Angehörigen sind vereinzelt als Abschriften erhalten und werden in Hannie Wolfs Buch zitiert.

Emmy Frankfurter  saß beim Schreiben  in einem winzigen Zimmer des „Judenhauses“ in der Neutorstraße 15, in das sie am 1.November 1940 von der Stadtverwaltung zwangseingewiesen worden war. Sie wohnte  zusammen mit der über 8o-jährigen, aus Neu-Ulm stammenden  Jüdin Rosa Wolf.

Das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. 4. 1939 hatte den Mieterschutz für Juden aufgehoben. In den Monaten danach waren die in Ulm verbliebenen ca 80  Jüdinnen und Juden in sechs, dann in  fünf Häusern, deren Eigentümer Juden waren, ghettoisiert worden. Das Haus Neutorstraße 15 war in Besitz des jüdischen Kaufmanns Saly Steiner, später seiner Witwe Fanny gewesen.

Emmys Schwiegersohn Felix Baer hatte fünf Geschwister (Jakob, Sigbert, Ben, Ruth, Carrie), die wichtige Bezugspersonen für Hannie vor und nach der Emigration waren. Vier der Geschwister emigrierten rechtzeitig in die USA. Sigbert blieb in Künzelsau, weil er mit seiner nichtjüdischen Frau Lisl (geb. Lindenberger) in einer „privilegierten Mischehe“ lebte. Sigbert und Liesl waren die wichtigsten Bezugspersonen von Emmy im Jahr 1941, auch deshalb, weil Lisl als Nichtjüdin – im Gegensatz zu ihrem Mann – noch unbeschränkt den Zug von Künzelsau nach Ulm benutzen konnte.

Die NS-Politik gegen die Juden ab 1933 umfasste vier Phasen, die sich teilweise auch überschnitten:

– die ideologische Hetze samt Abbau der rechtlichen Gleichstellung;

– die wirtschaftliche Enteignung, Ausplünderung und Beraubung;

– die Vertreibung;

– die Verschleppung und systematische Ermordung.

Emmy Frankfurter schrieb die überlieferten Briefe genau in den Wochen und Monaten des Herbstes 1941, in denen die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“, d.h. Verschleppung und Massenmord, geplant und in allen Teilen des Deutschen Reiches administrativ vorbereitet wurden.

Zwei Wochen vor der Flucht in die USA, hatte Emmy Frankfurter  in Hannies Poesie-Album geschrieben:

„Behüt dich Gott, so heißt das Wort,

Das man sich sagt beim Scheiden,

Weil sich in dieses eine Wort

Die besten Wünsche kleiden.

Behüt dich Gott zu jeder Zeit!

Gott lass Dich glücklich werden, dies ist mein innigster Wunsch für dein ganzes Leben.

Deine treue Oma

Ulm, den 30 August 1940“

 

Brief 24.8. 1941

„Mein Versprechen, Euch, meine Liebsten, dreimal wöchentlich zu schreiben, konnte ich diese Woche leider nicht halten. Es war so manches, das mich abhielt, und mit meinen traurigen Gedanken wollte ich euch nicht  auch noch belasten. […] Hier im Haus ist großes Durcheinander[…]Ich bin froh und glücklich mit meinem kleinen Zimmerchen, da kann man kein Bett mehr stellen!“

 

Brief 30.8. 1941

„Wie herzlich wurde ich heute Morgen mit euren lieben Zeilen vom 15. August erfreut. […] Ich bin ganz glücklich, daß die Post jetzt so schnell geht […] Ich schreibe Euch jetzt Sonntag, Dienstag und Donnerstag. […] Ach, manchmal ist mir doch das Herz so schwer und ich bin doch so voller Sehnsucht nach Euch, meine Liebsten, daß ich glaube, es nicht ertragen zu können, so packt mich die Sehnsucht, das Heimweh nach Euch, mein Alles auf der Welt.“

 

Brief 3. 9. 1941

„Der Tag wird kommen, an dem ich Euch, meine liebsten Drei, in Gesundheit wiedersehen darf und an den Gedanken halte ich mich mit allen Fasern.[…] Jetzt muß ich wieder fest Englisch lernen. Am Mittwoch ist der Kurs bei uns, d.h. im Zimmer von Frau Wolf, denn in meinem Zimmerchen könnten keine 8 Leute sitzen.“

 

Emmy nahm in diesen Monaten bei dem jüdischen Lehrer Leopold Bissinger Englisch-Unterricht, in der vagen Hoffnung, vielleicht doch noch nach Amerika auswandern zu können. Ein Geheimerlaß vom 23. Oktober 1941 verfügte, daß die Auswanderung von Juden aus Deutschland „ausnahmslos für die Dauer des Krieges“ verboten sei.

 

Brief 21.9. 1941

„Heute Abend beginnen die hohen Feiertage und schon zum zweiten Mal bin ich allein ohne Euch, meine Liebsten […] Wir gingen auch die letzten acht Tage nicht aus dem Haus, denn jeder wird den Fleck sehen und vielleicht eine ungezogene Bemerkung machen, dem wollen wir uns nicht aussetzen.“

 

Gemeint sind die „hohen Feiertage“ des Judentums zwischen dem jüdischen Neujahrsfest (Rosch ha Schaná) und dem zehn Tage später folgenden Versöhnungstag (Yom Kippur). Mit dem „Fleck“ ist der sogenannte „Judenstern“ gemeint. Diese „Kennzeichnung der Juden“ war eine am 15. September 1941 in Kraft getretene Reichsverordnung. Juden mußten sie ab dem sechsten Lebensjahr „sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest aufgenäht“ tragen. Dieser „Judenstern“ war ein etwa handtellergroßer, schwarz umrandeter, sechsstrahliger Stern auf gelbem Stoff, in dessen Mitte das Wort „Jude“ stand.

 

Am 5. Oktober schreibt sie dazu:

„Mit der Straßenbahn will ich nicht fahren und am Abend nach Hause gehen, wenn es dunkel ist, mag ich auch nicht. Jetzt ist alles noch so neu […] Das macht mir solche Hemmungen, daß ich Herzklopfen bis zum Hals habe so oft ich meinen Mantel anziehen muß.“

Brief 10. 1941:

„Ich hatte die ersten Tage solche Hemmungen, daß ich auf der Straße glaubte, einen Herzschlag zu bekommen, aber jetzt ist der Reiz der Neuheit abgeflaut. Der eine sieht einen mit mitleidigen, der andere auch mit spöttischen Augen an, aber heute bin ich darüber erhaben und trage alles mit Würde.“

 

Brief 10.10. 1941

„Von der Handelsbank kam […] ein Schreiben, daß nur noch 200 Mark auf dem Conto seien, das andere sei gesperrt vom Finanzamt Ulm. Ich ging sofort hin, aber ich habe bis heute keinen definitiven Bescheid. […] Ihr meine Liebsten könnt euch doch mein Entsetzen denken. Ich habe Deinen Rat, lieber Felix, befolgt und auch gespart, aber das wäre für mich doch ein fürchterlicher Schlag.“

In diesen Tagen wurden die Bankkonten der in Deutschland verbliebenen Juden gesperrt, das Geld fast vollständig von den Finanzämtern eingezogen. Den verbliebenen Juden waren damit weitestgehend die materiellen Lebensgrundlagen entzogen.

 

Brief 19.11. 1941

„Mit tiefer Wehmut sehen wir diese Woche zwei Personen von uns scheiden. Wie mir zumute ist, kann ich mit armen Worten nicht schildern. Mein Glück ist mein Alter, denn 60 ist die Altersgrenze.[…] Hier aus dem Haus scheiden allein neun Personen von uns. […]

Nun, meine geliebten Kinder, hoffe ich zu Gott, daß ich gesund bleibe. Euch, meine Liebsten, alles alles Gute, Gott behüte Euch. Seid aufs Innigste gegrüßt und geküsst von Eurer treuen Mutter, die im Geiste Euch segnet und täglich für Euch zum Herrgott betet, er möge mir das Glück schenken, Euch wieder zu sehen.“

 

Dies ist der letzte erhaltene, von Emmy Frankfurter aus Ulm an ihre Angehörigen geschriebene Brief. Wohl am 3. November 1942 schrieb sie, wie Hannie Wolf in ihren Erinnerungen mitteilt, von irgendwo im Osten: „Dies sind meine letzten Zeilen an euch. Ich gehe ins Unbekannte. Mir geht’s gut…“.

Am Sonntag, 26. April 1942 wurde Emmy Frankfurter von Ulm aus ins Durchgangslager Izbica (Distrikt Lublin) im besetzten Polen in einem Transport, dem ca. 278 Personen aus Württemberg und davon 14 Ulmer/innen angehörten, verschleppt. Dort verschwinden ihre Spuren.

Die erste Deportation ( offizielle Bezeichnung „Evakuierung“) Ulmer Juden, auf die sich Emmy in ihrem Brief bezieht,  war als Gerücht schon länger bekannt, aber nicht der Termin. Am 28. November waren die betroffenen Ulmerinnen und Ulmer – noch nicht Emmy Frankfurter – von der Sammelstelle Schwörhaus aus nach Stuttgart auf den Killesberg  und von dort in einer Gruppe von ca. 1000 Menschen aus Württemberg am 1. Dezember nach Riga transportiert und bald danach fast vollständig ermordet worden..

 

Familie Baer in den USA

Nach sechswöchiger Reise kamen die Baers am 31. Oktober 1940 in Seattle an und siedelten dann am 24. Dezember 1940 über nach Denver/ Colorado. Vater Felix Baer arbeitete dort zunächst als Dienstbote im Jüdischen Krankenhaus. Dann mietete und schließlich kaufte er einen Parkplatz. Auch Hilde, seine Frau, musste als Verkäuferin arbeiten, Hannie setzte ihre Schullaufbahn bis 1943 fort und arbeitete ab 1944  in einem Büro. Sie heiratete 1947, ihr Mann starb 1979. Am 2. Mai 1946 werden die Baers amerikanische Staatsbürger.

Hannie schreibt in ihren Erinnerungen:„Mein Vater hatte sich geschworen, nie mehr das Land zu betreten, dem er die besten Jahre seines Lebens gegeben hatte. In Amerika konnte er nie mehr Fuß fassen. Gebrochen in Körper und Geist starb er mit 70 Jahren 1965 in Denver.“

Und sie fährt fort: „Mama und ich setzten unseren Fuß erstmals wieder 1970 auf deutschen Boden. Es war eine wehmütige Reise in unsere Vergangenheit. Allerdings: wir kehrten nicht als Staatenlose, sondern als Bürger eines freien Landes zurück. Doch wir sind immer noch ‚Kinder zweier Welten’, aber wir haben die bessere der beiden für uns erobert.“

Hilde Baer beantragt und erhält als Alleinerbin von Emmy Frankfurter ab 1965 u.a. folgende Rückerstattungen bzw. „Wiedergutmachungen“: für die Wohnungseinrichtung; für beschlagnahmtes Vermögen; für Verfolgung , vom Tragen des „Judensterns“ ab 19.9. 1941 bis Kriegsende 8.5. 45.

 

Archiv-Quellen und Literatur

Archive:

Archiv des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg (DZOK), Ulm:
– R II, 450
– R I, 621 a
– R II 243

Staatsarchiv Ludwigsburg (Landesarchiv Baden-Württemberg):
– K 50, Bü.1029 („Vermögens-Rückerstattung für Erben“)
– EL 350 I, Bü 37448 („Wiedergutmachung für Freiheitsschaden“)

Literatur:

www.alemannia-judaica.de : Bad Sobernheim. Jüdische Geschichte; Stand: März 2016

wikipedia: Dillingen/ Saar, jüdische Gemeinde

Ingo Bergmann: Und erinnere dich immer an mich. Gedenkbuch für die Ulmer Opfer des Holocaust, Ulm 2009

Heinz Keil: Dokumentation über die Verfolgungen der jüdischen Bürger von Ulm /Donau, Ulm 1961

Resi Weglein: Als Krankenschwester in Theresienstadt. Erinnerungen einer Ulmer Jüdin. Hg. und mit einer Zeit- und Lebensbeschreibung versehen von Silvester Lechner und Alfred Moos, Stuttgart 1990

Hannie Wolf: Child Of Two Worlds, Nebraska 1979 (Erinnerungen von Emmy Frankfurters Enkelin, besonders auch an ihre Kindheit in Ulm)

 

Autor: Silvester Lechner