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Familie Adler und Moos

Stolpersteine Karlstraße 3 (früher Karlstraße 13) (GPS 48.404038, 9.985828)

 

Frieda und Isak Adler, die Eltern

Isak und Frieda Adler

Frieda Adler , geb. Obernauer , geboren 25.9.1888, und Isak Adler, geboren 6.4.1877, stammten aus Laupheim. Auf dem Laupheimer jüdischen Friedhof finden sich noch zahlreiche Grabsteine ihrer großen Verwandtschaft.

Frieda und Isak Adler heirateten am 23. 11. 1913 in Laupheim und übersiedelten in dieser Zeit nach Ulm. Dort lebten sie in der Herrenkellergasse 8. Isak Adler war Soldat im Ersten Weltkrieg, wurde verwundet und bekam ein Eisernes Kreuz. In dieser Zeit wurde seine Tochter geboren. Später wohnte die Familie in der Neutorstraße 16, dann aber Anfang der 1930er bis zur Emigration in der Karlstraße 13/1 im 2. Stock. Heute steht an dieser Stelle ein Neubau, das Bürocenter K3 zwischen Besserstraße und Neutorstraße.

Isak Adler war Viehhändler. Er hatte in Ulm in der Oststadt seine Geschäftsgebäude unter der Adresse In der Höll 2 bis in die NS Zeit. Bald wurde für Juden der Viehhandel unmöglich gemacht, das Geschäft erlosch. Die beiden flohen – etwa zwei Monate nach dem reichsweiten Pogrom des Nazi-Staates gegen die Juden – im Januar 1939 nach Palästina. Wenige Monate nach der Ankunft, am 12 Juni 1939, nahm sich Isak Adler aus Verzweiflung das Leben. Er war körperlich krank und die Nazis hatten ihm alles genommen; Palästina war ihm, dem Schwaben, fremd.

Die Mutter Frieda übersiedelte Anfang 1953 aus Tel Aviv mit der Tochter Erna, deren Mann Alfred Moos und beider Sohn Michael Moos zurück nach Ulm.

Erna Sophie Moos, geb. Adler, die Tochter

Erna und Frieda Adler

Erna, das einzige Kind von Frieda und Isak, wurde am 24. Januar 1916 in Ulm in der Herrenkellergasse 8 geboren. Sie ging von 1922 bis 1925 in die evangelische Volksschule in der Friedrichsau, wo bis 1935 alle jüdischen Kinder Ulms zur Schule gingen. Nach der Volksschule besuchte sie bis 1931 die Mädchenrealschule in Ulm und bis 1932 das Internat der Englischen Fräulein in Wallerstein bei Nördlingen. Dort bekam sie 1932 das Zeugnis der „Mittleren Reife“.

Da sie im nationalsozialistisch gewordenen Ulm keine Ausbildungsstelle fand, machte sie von Oktober 1933 bis Dezember 1934 in London eine Ausbildung zur Schönheitspflegerin und Friseuse. Sie kehrte im Februar 1935 nach Ulm zu den Eltern zurück.

Alfred und Erna Moos auf dem Balkon ihrer ersten Wohnung in Tel Aviv. September 1936.

Ende März 1936 emigrierte sie nach Palästina und heiratete nach der Ankunft am 6. April in Tel Aviv Alfred Moos (1913 bis 1997), den sie aus Ulm kannte. Alfred Moos war dort schon im Mai 1935 angekommen. Der erste Sohn Michael wurde in Tel Aviv am 30.1.1947 geboren, der zweite Sohn Peter am 11.5. 1956 in Ulm.

Englische und südafrikanische Soldaten mit Emigranten in einem Strandcafe in Tel Aviv, u.a.: Erna Moos (3. v.l. mit Hut); Alfred Moos (3.v.r. mit Sonnenbrille). 1942.

1949, noch in Israel, zeigte sich bei Erna erstmals eine psychische Erkrankung, die bis zu ihrem Tod währte. Am 26.1.1953 haben Erna und Alfred Moos Israel verlassen – zusammen mit dem Sohn Michael und Ernas Mutter, Frieda. Sie kamen am 3.2.1953 in Ulm an. Die erste Wohnung war im Neunkirchenweg 89, die zweite (ab 1955) ein eigenes Haus im Kauteräckerweg 18. Die deutsche Staatsangehörigkeit war Erna am 15.4.1939 aberkannt worden. Am 19. Dezember1938 war sie mit ihrem Mann ins englische Mandatsgebiet Palästina eingebürgert worden. Mit Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 war sie dessen Staatsbürgerin geworden. Am 17.10.1951 bekam sie die deutsche Staatsbürgerschaft zurück, zusammen mit Mann und Sohn.

Erna Moos verstarb am 14. Februar 1994 in Ulm und ist am Ulmer Friedhof zusammen mit ihrem Mann Alfred beerdigt. Am 6. März 2020 wurden Erna Moos und ihren Eltern in Ulm vor der Karlstraße 3 Stolpersteine gesetzt.

Psychische Erkrankung und „Wiedergutmachung“

Erna Moos (im folgenden E.M.) war 33 Jahre alt, als sie im Herbst 1949 erstmals an einer Psychose erkrankte, die im Lauf ihres weiteren Lebens chronisch wurde und bis zu ihrem Tod im Jahr 1994 anhielt. Dreißig Jahre dauerte das Ringen um eine Wiedergutmachung.

Der Anstoß, die Verfolgung im Nationalsozialismus in seinen psychischen Folgen für die Überlebenden und damit als Anspruch auf eine Entschädigung durch die Bundesrepublik zu verstehen, kam vor allem aus Süd- und Nordamerika aus der Zeit Ende der späten 50er Jahre. Antragsteller waren Überlebende, die aus Nazi-Deutschland geflohen waren. Die Gutachter waren in der Regel Psychotherapeuten, die gleichfalls aus Deutschland geflohen waren.
In Deutschland wurde weit länger zwischen einerseits Behörden und Gutachtern und andererseits Verfolgten bzw. ihren Rechtsvertretern um Anerkennung der NS-Verfolgung und einer Entschädigung durch den Staat gerungen.
Erna Moos ist ein Beispiel für diesen Prozess. Deshalb soll er als Teil ihrer Lebensgeschichte hier in wesentlichen Daten skizziert werden.

Ein Kernpunkt der Auseinandersetzungen war die Frage, ob die erstmals 1949 aufgetretene psychische Erkrankung eine Folge der NS-Verfolgungen oder „endogen“ in ihrer Persönlichkeit angelegt war. Das „Landesamt für die Wiedergutmachung, Baden Württemberg“ (LfW) in Stuttgart war der Adressat der Anträge. Gutachter kamen u.a. von den Unis Tübingen, Heidelberg und Ulm.

1. NS-Verfolgung und Erna Moos
(aus den Entschädigungs-Anträgen von Alfred und Erna Moos)

– NS-Verfolgung als Jüdin ab 1933, deshalb Ausbildung in England.
– Flucht aus NS-Deutschland 1936
– Suizid des Vaters am 12. Juni 1939, wenige Monate nach seiner Flucht nach Palästina
– Wehrmachts-Truppen stehen 1942 in Ägypten, ein Einmarsch in Palästina wurde befürchtet und dort als existenzielle Bedrohung der Juden empfunden.
– Nach Kriegsende erfuhr sie von der Ermordung naher Verwandter.
– Reise 1949 von Ehemann Alfred Moos nach Deutschland zum Zweck der Erkundung der Rückkehr-Bedingungen. Erna Moos entwickelt starke Ängste, die zu einem ersten Klinikaufenthalt in Haifa führen.
– Rückkehr der Familie im Februar 1953 nach Deutschland/Ulm; erster Klinik-Aufenthalt Juni bis Oktober 1953: „Verfolgungsvorstellungen“ mit Ängsten, „vergast zu werden“ wie „zahlreiche Familienmitglieder“ (Tanten, Onkel, Vetter). Sie habe „überall Nazis gesehen“ und die jüdischen Freunde in Ulm vermisst.
– Ehemann Alfred am 29.10.53 an das LfW: „Meine Frau war vor der NS-Gewaltherrschaft vollkommen gesund“.

2. Ringen um Entschädigung von 19.10 1953 bis 25.10.1983
Die wesentlichen Argumente der Anträge und Bescheide

19.10.1953: Bitte um Kostenübernahme für Klinik-Aufenthalt Günzburg; abgelehnt am 15. April 1953. „Gegen die Antragstellerin sind nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen […] nicht ergriffen worden“. Der Suizid des Vaters sei nicht entschädigungsrelevant, da er nicht mit „nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen“ in Verbindung gestanden habe.

11.1.1956: Antrag auf Entschädigung wegen „Schadens an Körper und Gesundheit“ – „Heilverfahrenskosten“; abgelehnt 15.4.1956: „Gegen die Antragstellerin persönlich sind nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen“ „nicht ergriffen worden“. Der Suizid des Vaters sei nicht entschädigungsrelevant, da gegen ihn keine konkrete „nationalsozialistische Gewaltmaßnahme“ vorlag. (S. 73f).

29.6.1956: Das „Bundesentschädigungsgesetz“ wird im Deutschen Bundestag rückwirkend zum 1.10.1953 verabschiedet.

30.7.1956: Der Antrag auf „Soforthilfe für Rückwanderer“ [d.h.: nicht für Verfolgte], wird am 20.3. 1957 gewährt.

29.3. 1957: Antrag auf Entschädigung wegen „Schadens im beruflichen Fortkommen“; wird abgelehnt am 9.4.1957 und 21.2.1958.

25.3. 1960: Antrag auf Entschädigung wegen „Schadens an Leben und Ausbildung“ positiv beschieden (30.000 DM).

27.9.1966: Neuer Antrag (nach 10 Jahren) auf Entschädigung wegen „Schadens an Körper oder Gesundheit“, infolge von Verschlechterung des psychischen Zustandes und mehrerer Klinik-Aufenthalte; wird abgelehnt am 27.11.1968 und am 20.5.1970 (fast identische Begründung wie 15.4.1956).

1.11.1969: Gutachten der Universitätsnervenklinik Tübingen: Bei Ernas Leiden handle es sich um eine „endogene Psychose“, d.h.: eine „Verfolgungsbedingtheit“ ihrer Krankheit sei „unwahrscheinlich“ und deshalb nicht relevant für eine Entschädigung. Dies war Grundlage der erneuten Ablehnung vom

19.5.1970: Argumente: „Gegen die Klägerin persönlich“ seien „keine national-sozialistischen Gewaltmaßnahmen, auf welche ihre geistige Erkrankung bezogen werden könne, ergriffen worden.“

31.5.1972: Berufung gegen Urteil vom 19.5. 1970 wird abgewiesen.„Das Urteil entspricht dem jetzigen Stand der medizinischen Forschung“.

12.5.1981: Gutachten von Sibylle Herrlen-Pelzer, Psychiatrische Ambulanz des Klinikums der Universität Ulm. Kernsatz des Gutachtens: Die „Folgen des NS-Regimes“ „spielen noch heute beim psychotischen Erleben von Frau Moos inhaltlich eine wesentliche Rolle“ (S. 157). Ab Januar 1981 hatte Sibylle Herrlen Pelzer mit einer 14-tägigen ambulanten “nervenärztlich-sozialpsychiatrischen“ Behandlung begonnen. Sie wurde bis in das Jahr vor Erna Moos’ Tod am 14.2.1994 fortgesetzt.

8.8.1981: Gutachten Uni Klinik Heidelberg. Es wird zwar ein Wandel der „Lehrmeinung“ bezüglich der Bedeutung exogener Faktoren bei einer Psychose gegenüber endogenen/ „erbbedingten“ konstatiert. Fazit allerdings: Ein Zusammenhang von NS-Verfolgung und Krankheit sei „zwar nicht ausgeschlossen , aber doch unwahrscheinlich“. Auf dieser Grundlage teilt am 14.9.1981 das Landesamt der Antragstellerin Erna M. mit: „Dem Begehren auf Gewährung einer Entschädigung kann nicht entsprochen werden“ (S. 183)

3.5.1982: neues Gutachten des Klinikums Heidelberg nach persönlicher Untersuchung von Erna M. Es wiederholt praktisch das Urteil vom Gutachten 8.8. 1981: „Mitursächliche Beziehungen“ der Psychose mit der „Verfolgungssituation „seien „möglich“, aber „nicht wahrscheinlich im Sinne der Rechtsprechung“. Und zwar vor allem deshalb weil bei Ausbruch der Psychose die „Verfolgungssituation“ „als Faktizität ja längst vorüber“ war.

1.6.1983: Gutachten Psychiatrische Landesklinik Schussenried: Die „Angst- und Depressionssymptomatik“ von E.M. sei „mit großer Wahrscheinlichkeit“ „durch äußere Ereignisse und Erlebnisse maßgeblich ausgelöst worden“.

25.10.1983: Die „Entschädigungskammer beim Landgericht Stuttgart“ anerkennt die Verfolgungsbedingtheit von Ernas Leiden und schlägt einen – später angenommenen – Vergleich vor. Dieser beinhaltet dreierlei:
– eine einmalige Abfindung
– ab 1.10.1983 eine laufende monatliche Rente
– Übernahme der Kosten „aller Heilverfahren“.

15.5.1993: Schlaganfall von E.M.

14.2.1994: Tod in Ulm.

Erna Moos in Ulm nach ihrer Rückkehr aus Israel. 1953

  

Autor: Silvester Lechner
  

Quellen

Archive

1. StA Ludwigsburg , EL 350 I, Bü. 34372 („Wiedergutmachung“ Erna Moos)

2. Archiv DZOK, Ulm, Nachlass Moos, Alfred und Erna

3. Archiv DZOK, Ulm, Nachlass Klaus Fink, 15

4. Archiv DZOK, Ulm, Rep III 197 Wiedergutmachungs-Gutachten im Auftrag der deutschen Botschaft in Santiago/ Chile, 1963 – 1971

5. Bilder: Archiv DZOK, Ulm, B508, B511, B523.

Literatur (Auswahl)

Dauerer, Claudia,
Alfred Moos. Ein Ulmer Jude auf der Flucht vor dem NS-Staat. Ein Beitrag zur deutschen Emigration nach Palästina, Ulm 1995 (= DZOK-Manuskripte, Bd.2, hg. von Silvester Lechner)

Eissler K.[urt] R.[obert],
Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben? in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse 17, 1963, S. 241 – 291.

Gottermann, Svenja,
Kausalitätsfragen. Psychisches Leid und psychiatrisches Wissen in der Entschädigung; in: Frei, Brunner, Goschler (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung, Bonn 2010, S. 427 – 451.

Weglein, Resi,
Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt. Erinnerungen einer Ulmer Jüdin, hg. und mit einer Zeit- und Lebensbeschreibung versehen von Silvester Lechner und Alfred Moos, 2. Aufl., Stuttgart 1990.(dort „Wiedergutmachung für Resi Weglein, S. 193 – 204).