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Familie Kaufmann

Stolpersteine Keplerstraße 21, jetzt St. Anna Stift (GPS 48.404543, 9.992678)

 

Rosa (Rahel) Kaufmann geborene Smus wurde 1899 in Minsk (damals Russland) geboren und war das vierte Kind von Rifka Beile geb. Choronzitki und dem Kaufmann und Klavierlehrer Hirsch Smus. Ihre Familie lebte seit 1910 in München, wo Rosa 1919 Hermann Kaufmann aus Ulm heiratete. Dieser wurde 1886 in Kalisch (Polen) als Hertz David Kaufmann geboren und hatte nach der Übersiedlung nach Deutschland den deutschen Vornamen Hermann bekommen. Er arbeitete seit 1907 als kaufmännischer Angestellter bei der Firma „Monestra“ in Ulm, einer Tabak- und Zigarettenfabrik von Salomon Karnowski. Kurzzeitig führte er zwei eigene Geschäfte, bis er ab 1918 als Provisionsreisender für Karnowski tätig war.

Rosa Kaufmann (Patienten Akte StS Wü 681 T 1 1992/4

Rosa Kaufmann. Foto: Staatsarchiv Sigmaringen Wü 681 T 1

Rosa und Hermann Kaufmann ließen sich in Ulm nieder, wo ihre drei Kinder geboren wurden: Selma (27. August 1920), Helmut (8. November 1922) und Gerdi (23. September 1924).

Im Alter von nur 41 Jahren starb1927 Ehemann Hermann plötzlich an den Folgen einer Operation und hinterließ seine Frau Rosa mit drei minderjährigen Kindern und ohne finanzielle Absicherung. Durch den Tod des Mannes gesundheitlich beeinträchtigt konnte Rosa vermutlich nicht mehr dauerhaft für die Kinder sorgen, so dass diese vorübergehend im israelitischen Waisenhaus in Esslingen untergebracht wurden. Im Juni 1928, ein dreiviertel Jahr nach dem Tod ihres Mannes, starb Sohn Helmut im Alter von fünf Jahren im Krankenhaus Esslingen. Er wurde wie sein Vater in Ulm beigesetzt. Sein Grabstein ist auf dem Ulmer Friedhof erhalten geblieben.

Rosa erhielt finanzielle Unterstützung von der jüdischen Gemeindehilfe in Ulm. Die Ulmer jüdische Gemeinde verhalf Rosa zudem zu einer Aushilfstätigkeit in einem Kürschnergeschäft in der Hirschstraße bei Familie Hilble. Als letzter gemeinsamer Wohnort der Familie ist im Ulmer Adressbuch von 1931 angegeben: „Rosa (Herm.) Kaufmann Witwe, Keplerstr. 21, 1. Stock“. Was sich zwischenzeitlich familiär bis zum 11. November 1931 ereignete, entzieht sich unseren Kenntnissen. An diesem Tag wurde Rosa Kaufmann, psychisch durch die Schicksalsschläge erkrankt, in die Heilanstalt Schussenried aufgenommen. Auf dem Anamnesebogen steht: Gewicht: 46 kg , Haarfarbe: schwarz, Augenfarbe: blau. Das bei ihrer Aufnahme in der Klinik gemachte Bild zeigt ein hübsche junge Frau. Rosas Mutter, welche noch in München lebte, wurde von der Klinikleitung über die Einweisung ihrer Tochter in die Heilanstalt Schussenried informiert und um ihre Einverständniserklärung gebeten, welche sie umgehend schickte.

Rosa tauchte immer mehr in ihre eigene Gedankenwelt ein und konnte am geregelten Leben während ihres Klinikaufenthaltes nicht mehr teilnehmen. Arnold Czisch, ein jüdisches Gemeindemitglied und Süßwarenhändler aus Ulm, wurde zu ihrem Betreuer eingesetzt. Rosas Töchter Selma und Gerdi wurden wieder in Esslingen untergebracht. Sie besuchten dort die israelitische Schule und wohnten im israelitischen Waisenhaus, dessen Leiter Theodor Rothschild war. Als ihr Vormund wurde Dr. Julius Cohn, Bezirksrabbiner in Ulm, bestellt.

Während Rosas Aufenthalt in Schussenried gab es immer wieder Briefkontakt zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Ihre Schwester Berta übersandte Genesungswünsche aus München, ihr Bruder David besuchte sie von dort, schickte Pakete mit Essen und wünschte, dass sie zweiter Klasse und nicht schlechter verpflegt wurde. Auch der inzwischen in Norwegen lebende Bruder Jakob nahm brieflich an Rosas Schicksal Anteil und bedauerte, dass er wegen eigener wirtschaftlicher Probleme der Schwester finanziell nicht helfen konnte.

Vom städtischen Wohlfahrtsamt Ulm wurde schließlich aus Kostengründen im Dezember 1932 die Überführung von Rosa Kaufmann in das von Diakonissen betriebene Gottlob-Weißer-Haus in Schwäbisch Hall veranlasst, wo sie bis zum 19. November 1940 lebte. NS-Behörden beschlagnahmten diese Einrichtung im November 1940 und Rosa wurde im Rahmen des T4-Krankenmordprogramms in die sogenannte „Zwischenanstalt“ Weinsberg verlegt. Auf ihrem Aufnahmeblatt in Weinsberg ist schon mit Ausrufezeichen vermerkt „ vorübergehend hier!“. Am 4. Dezember 1940 wurde sie als „ungeheilt entlassen“ mit weiteren Opfern in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht und sofort nach ihrer Ankunft ermordet.

 

Selma Behr 1988. Foto: Stadt Esslingen

Selma Behr 1988. Foto: Stadt Esslingen

Selma mit 18 Jahren. Foto: Familie Behr

Selma mit 18 Jahren. Foto: Familie Behr

Rosas ältere Tochter Selma besuchte die israelitische Schule Esslingen. Aus dem Zeugnis des sechsten Schuljahres von 1933 geht hervor, dass sie eine gute Schülerin war. Am 30. September 1938 wanderte sie wegen der zunehmenden Diskriminierung und Entrechtung jüdischer Menschen in Deutschland von Bremen mit dem Schiff „Berlin“ nach Amerika aus. Sie hatte ein Immigrationsvisum und als Bürge für sie steht Siegfried Behr in N.Y. als „Cousin“ hinter ihrem Namen in der Passagierliste. Ursprünglich aus dem fränkischen Mönchsroth stammend, war dieser 1936 von seinem letzten Wohnort Stuttgart aus als erster von vier Geschwistern in die USA emigriert. Infolge der deutsch-polnischen Auseinandersetzungen von 1938 um die Staatszugehörigkeit von schon länger in Deutschland lebenden polnischen Juden galt Selma zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung als „staatenlos“, was ebenfalls in der Passagierliste vermerkt wurde. Sie wollte auch ihre Schwester Gerdi baldmöglichst in die USA nachholen, was eine Einzahlungskarte beim amerikanischen Büro für jüdische Auswanderung belegt. Als Adresse ist Gerdi Kaufmann, Laufgraben 37 in Hamburg angegeben. Dort befand sich das Mädchenwaisenhaus der Deutsch-Israelitischen Gemeinde „Paulinenstift“ in Hamburg, wohin sie jedoch nicht mehr gelangte. Selma arbeitete bei den Behrs als Haushälterin und heiratete später in die Familie ein.

1957 beauftragte sie ein Rechtsanwaltsbüro in Fürth, sie in Entschädigungsangelegenheiten zu vertreten und ihr zu helfen, das Schicksal ihrer Mutter aufzuklären. 1988 besuchte Selma mit ihrem Mann Eugene Behr die Stadt Esslingen. Im hohen Alter von 95 Jahren starb sie 2014 in den USA. Alan Behr, ein Neffe ihres im Jahr 1998 verstorbenen Mannes, überließ der Stolpersteininitiative ein Bild seiner Tante aus den 1950er Jahren zur Veröffentlichung.

Gerdi Kaufmann. Foto: Kreisarchiv Alb-Donau-Kreis LK UL, Nr. 3417

Gerdi Kaufmann. Foto: Kreisarchiv Alb-Donau-Kreis LK UL, Nr. 3417

Rosa Kaufmanns zweite Tochter Gerdi verbrachte genau wie ihre Geschwister ihre Kindheit größtenteils in Esslingen. Auch sie ging in die israelitische Schule, wobei sie im Zeugnis 1933 in der zweiten Klasse für ihr Aufsatzschreiben, Singen und Turnen gute Noten erhielt. Sie wird von ihren Lehrern als zartes, geordnetes Kind beschrieben, welches aber auch laut und unverträglich sein konnte. Von ihrem Aufenthalt im Waisenhaus ist auch ein Brief Gerdis an die Erzieherin Rosi Schul erhalten, in dem sie erzählt, dass sie mit zwei weiteren Kindern zum Purimfest die Purimgeschichte eingeübt und geprobt hat. Als sie 14 Jahre alt war, wurde am 10. November 1938, am Tag nach der sogenannten „Reichskristallnacht“, das israelitische Waisenhaus in der Mittagszeit von Männern – unter ihnen SA-Mitglieder – gestürmt. Das Mobiliar wurde zerschlagen, Ersparnisse der Kinder sowie deren Papiere verschwanden. Unter Drohungen wurde es den Pädagogen und den Kindern verboten, das Haus wieder zu betreten. Viele Kinder irrten hilflos umher, bis sich einige Verwandte und Bekannte ihrer annahmen. Laut Augenzeugenberichten sah man Kinder, die sich zu Fuß auf den Weg nach Stuttgart machten. Vielleicht wurde wegen dieser gewalttätigen vorübergehenden Auflösung des Waisenhauses der Briefkontakt zwischen Selma und Gerdi erschwert, so dass schließlich Selmas Anstrengungen, die Schwester in die USA nachzuholen, misslangen.

Anfang 1940 wurde Gerdi als Praktikantin in einem jüdischen Altersheim in Stuttgart geführt. Ab dem 23. Februar 1942 war sie im jüdischen Zwangsaltersheim in Dellmensingen beschäftigt. Dorthin wurden vorwiegend ältere, aus ihren Wohnhäusern vertriebene Juden gebracht, darunter auch jüdische Bürger aus Stuttgart. Die Bewohner und das Betreuungspersonal dieses Heims wurden gemeinsam am 24. April 1942 mit unbekanntem Ziel „evakuiert“ – ein weiterer Schritt auf dem Weg zu ihrer Ermordung.

Nach dem Krieg rekonstruierte die israelitische Kultusvereinigung Württemberg und Hohenzollern Deportationslisten, welche auf Deportationsunterlagen, Gestapolisten und sonstigen Nachforschungen beruhten. Auf einer der Listen ist Gerdi Kaufmann zu finden, deportiert von Stuttgart aus am 26. April 1942 nach Izbica. Dieser Ort war eine Zwischenstation für den Weitertransport in die Vernichtungslager Sobibor und Belzec in den von Deutschland besetzten Gebieten in Osteuropa. In Izbica verliert sich die Spur der 17jährigen Gerdi Kaufmann. An der Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ am Stuttgarter Nordbahnhof steht eine Gedenkmauer mit Namen der von dort aus deportierten Menschen. Darunter befindet sich auch der Name Gerdi Kaufmann.

Quellen:

Diakonisches Werk, Archiv Schwäbisch Hall

Kreisarchiv Alb-Donau-Kreis

Stadtarchiv Ulm, Adressbuch Ulm 1931

Stadtarchiv Esslingen, Sterbebuch Esslingen a. N.,1928

Hauptstaatsarchiv Stuttgart J 386 Bü 588, 582, 593, 582,

Landesarchiv Ludwigsburg F 234 III Bü 1104, F 420 I Bü 1893, El 350 I Bü 46624, EL 228 b II Nr. 74138

Staatsarchiv Sigmaringen Wü 68/1 T 1

Copy of 1.2.1.1/11201242 und Copy of 1.2.1.1/11201314 Ausschnitt aus der Deportationsliste der in KZ, Ghettos und Arbeitslager verbrachten Juden aus Württemberg u. Hohenzollern, ITS Archives, Bad Arolsen

Copy of 0.1/27522674 Registrierungsunterlage erstellt in Baden Württemberg, ITS Archives, Bad Arolsen

Bezirksregierung Düsseldorf, Entschädigungsstelle

Familysearch, New York Passenger Lists 1925-1957

Ancestry, Einzahlungskarten des Jewish Transmigrations Bureau

SUB Hamburg, Hamburger Adressbuch 1939, http://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/start

Literatur:

Ingo Bergmann: „ …und erinnere dich immer an mich“. Gedenkbuch für die Ulmer Opfer des Holocaust. Ulm 2009.

Joachim Hahn: Jüdisches Leben in Esslingen. Schriftenreihe Esslinger Studien Band 14, Stadtarchiv Esslingen 1994.

Claudia Schroth: „Tröstet euch, uns geht es gut“. Theodor Rothschild, ein jüdischer Pädagoge zwischen Achtung und Ächtung. Esslingen 1998.

Stadt Esslingen (Hrsg.): „Vergesslichkeit führt zur Entfremdung – Gedenken ist das Geheimnis der Erlösung“. – Dokumentation zu den Besuchsprogrammen der Stadt Esslingen a. N. für ehemalige jüdische Mitbürger (1984 – 1990). Esslingen 1991.

Stadtarchiv München: Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945 – online.

Bildnachweis/Bildrechte:

Bild 1 : Rosa Kaufmann, Staatsarchiv Sigmaringen WÜ 68/1 T1

Bild 2: Selma Kaufmann verheiratete Behr, Bildrechte Familie Behr

Bild 3: Selma Behr 1988 Esslingen, Stadt Esslingen a. Neckar

Bild 4: Gerdi Kaufmann, Kreisarchiv Alb-Donau-Kreis LK UL, Nr. 3417

Autorinnen: Angelika Liske und Karin Jasbar