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Familie Moos

Stolpersteine Friedrich-Ebert-Straße 14, vor C&A (48.3984666, 9.9845005)

 

Die Familie Moos, die für viele Jahren an der Adresse Promenade 7, nicht weit vom Bahnhofsplatz wohnte, litt im April 1933 gleich nach der Machtergreifung unter den judenfeindlichen Maßnahmen der neuen Hitler-Regierung. Paul und sein Bruder Rudolf wurden aus ihren Berufen ausgeschlossen. Paul starb 1940 als Opfer der Nazi-„Euthanasie“ und sein Tod war besonders tragisch: um Haaresbreite hätte er in den USA überlebt.

Paul Heinrich Moos wurde am 10. September 1902 als erstes Kind eines erfolgreichen und wohlhabenden Rechtsanwalts in Ulm geboren. Die Familie war jüdisch, ließ aber manche Gebräuche unbeachtet, sie stammte väterlicherseits aus Buchau, wo Großvater Heinrich ein Ledergeschäft innehatte. Pauls Vater Alfred war schon 1871 als zweijähriges Kind mit seiner Familie nach Ulm gezogen und konnte später als Gymnasialschüler die Bildungsvorteile der großen Stadt voll ausnützen und dann eine Rechtsanwaltskanzlei gründen, die in der Stadt als „Moos II“ weit bekannt wurde. Alfred war gesellig und hatte einen großen Freundeskreis, da spielten konfessionelle Unterschiede kaum eine Rolle. Die Familie war gut vernetzt, unter anderem war Alfred auch ein 2. Cousin von Albert Einstein, was später für Paul auch von Bedeutung wurde.

Dr. Paul H. Moos (1902-1940)

Dr. Paul H. Moos (1902-1940)

Bei der Geburt von Paul waren Alfred und seine Frau Selma geb. Gutmann ein Jahr verheiratet und lebten noch in der Rothstraße, zwischen Grenadierkaserne und Karlsplatz. Bald zogen sie in die Olgastraße um, wo Paul seine ersten zehn Lebensjahre verbrachte. Bruder Richard kam schon 1903 auf die Welt. Erst 1910 wurde der jüngste Bruder Rudolf geboren und dies war wohl der Anlass für den Umzug 1912 in die größere Wohnung im 2. Stock des Mehrfamilienhauses Promenade 7. Wo das Haus stand ist jetzt die Straße zwischen C & A und den Straßenbahnschienen in der Friedrich-Ebert-Straße. Vom 2. Stock hatte man sowohl Blick auf den Garten des Russischen Hofs als auf den Münsterturm. Dort blieb die Familie bis 1933.

Paul ging ab 1909 in die Elementarschule und dann in das Gymnasium in der Olgastraße. Er war ein außerordentlich guter Schüler und wurde als ruhig und etwas zurückgezogen beschrieben. Während des 1. Weltkriegs war er mit seinen zwei jüngeren Brüdern und Mutter Selma allein, da Alfred als juristischer Berater der Armee abkommandiert wurde, zuerst nach Belgien, anschließend als Berater in Berlin. Die Reifeprüfung erlangte Paul im Februar 1921, anschließend studierte er Medizin in Tübingen und München mit klinischen Semestern in Freiburg, Heidelberg und Berlin.

Das Jahr 1926 fing an mit der erfolgreichen ärztlichen Reifeprüfung im Frühjahr. Danach musste er sein praktisches Jahr absolvieren – zuerst in Ulm für 6 Monate am Städtischen Krankenhaus, dann in Heidelberg. Das zweite Halbjahr brachte schlimme Schicksalsschläge: zuerst erkrankte er selbst an einer lebensbedrohlichen Infektion nach einer Ohroperation, dann erkrankte sein Vater an Magenkrebs. Vater Alfred starb noch im Oktober desselben Jahres. Durch die ärztliche Approbation im Folgejahr konnte sich Paul schon von seinem Beruf ernähren und war keine Belastung mehr für die Familie.

Paul Moos im Jahr 1933

Dr. Paul H. Moos im Jahr 1933

Nach der Approbation verblieb Paul zunächst als Assistenzarzt für die weitere fachärztliche Ausbildung als Psychiater und Neurologe in Heidelberg. 1929 folgte seine Promotion über die multiple Sklerose an der psychiatrisch-neurologischen Klinik in Heidelberg aber schon in Juni 1928 hatte er eine Stelle im Städtischen Krankenhaus in Frankfurt a.M. übernommen. Die letzte Station seiner Facharztausbildung war im Bürgerhospital Stuttgart und im Laufe von 1932 machte er sich selbständig mit einer Facharztpraxis für Nerven- und Gemütsleiden in Stuttgart.

Die Brüder Moos strebten aber zurück nach Ulm. Selma Moos lebte noch in der großen Wohnung auf der Promenade 7 und der kleine Bruder Rudolf hatte sein Jurastudium abgeschlossen und bekam jetzt eine Referendarstelle in Ulm. Für Paul war es also naheliegend eine Praxis in Ulm aufzumachen. Die Praxis wurde Anfang 1933 im 1. Stock des Hauses Frauenstraße 50 eröffnet. Das Haus gegenüber der Rosengasse steht heute noch größtenteils unverändert. In der Wohnung neben der Praxis lebten Paul, Selma und wahrscheinlich auch Alfred. Die Praxis ging recht gut, Paul beantragte die Kassenzulassung und bekam diese zum 1. April 1933.

ScrnRes_StSt3 InseratPraxisDiese erfolgreiche Etablierung dauerte gerade 22 Tage. Nach der Machtergreifung und der Auflösung des Reichstags am 1. Februar konnte Adolf Hitler unzählige Verordnungen zum Ausschluss der Juden aus dem wirtschaftlichen Leben durchsetzen. Am 22. April 1933 wurde Dr. Paul Heinrich Moos wie allen anderen nicht unter dem Frontkämpfererlass fallenden jüdischen Ärzten die Kassenzulassung entzogen. Mit einem Schlag wurde ihm die wirtschaftliche Grundlage seiner Selbständigkeit genommen. Ein paar Monate später wurde auch Bruder Rudolf aus seiner Referendarstelle entlassen. Eine Zukunft in Deutschland gab es für die Familie nicht, trotzdem zögerte man wegzugehen.

Paul entschloss sich schnell zu einer Auswanderung in die USA, dabei war die Verwandschaft zu Albert Einstein eine große Hilfe, da dieser bereitwillig ein Affidavit zur Verfügung stellte. Am 24. Mai 1934 lief das Schiff „Stuttgart“ der Norddeutschen Lloyd aus dem Bremer Hafen mit Dr. Paul Moss (sic) an Bord, Ziel New York. Dort angekommen fand er schnell eine Bleibe in dem West 96th Street. Es folgte schon am 4. Juni mit seiner Unterschrift unter dem „Declaration of Intent“ der Antrag auf Einbürgerung als Amerikaner. Paul bekam eine Stelle als Assistenzarzt in einem Krankenhaus in New York und später eine weitere Stelle in Boston.

Mit einer gesicherten Zukunft in greifbarer Nähe nahm die Geschichte eine tragische Wende. Anfang 1937 begann ausgerechnet der Nervenarzt Dr. Paul Moos sich ungewöhnlich zu verhalten. Er fühlte sich von einem anderen Arzt verfolgt. Bald wurde für ihn ein Platz im Westport Sanatorium in Connecticut gefunden, dort diagnostizierte man Schizophrenie, die man mit nur vorübergehendem Erfolg mit einer Insulinkur behandelte. Damit hatte es ein Ende mit der Einbürgerung und auch das Visum konnte nicht verlängert werden, da psychische Krankheit als Ausschlusskriterium galt. Am 23. Februar 1938 musste er die USA verlassen und zurück nach Hitler-Deutschland fahren, obwohl die damit verbundene Gefahr für sein Leben schon klar sein musste.

Seine Familie, inzwischen in Göppingen, versuchte eine Klinik für ihn ausfindig zu machen, wo er nicht gleich als Jude schikaniert werden würde. Am 15. März 1938 wurde er in der Heilanstalt Zwiefalten aufgenommen, deren Klinikleiter Dr. Hans Walter Gruhle in Heidelberg sein Lehrer gewesen war. Gruhle war bei Kollegen bekannt als Gegner der nationalsozialistischen Rassenlehre und deswegen vom Beamtentum ausgeschlossen worden. Er betrieb ein fortschrittliches Behandlungsprogramm in Zwiefalten. Nichtsdestoweniger setzte Gruhle sich ein für die „Unfruchtbarmachung“ von Paul Moos, die am 29. September 1938 im Kreiskrankenhaus Riedlingen durchgeführt wurde. Die Krankheit verschlimmerte sich. Leider stimmte Paul Moos‘ Behauptung nicht, er selbst habe Adolf Hitler mit Strahlen aus den USA getötet.

Gruhle verließ Zwiefalten im September 1939, um als leitender Lazarettarzt in Winnenden zu arbeiten und nach Ansicht seines Sohnes eine Verstrickung in die „Euthanasie“-Pläne der Hitler-Regierung zu vermeiden. Nach dem Umfunktionieren von Zwiefalten zu einem Zwischenlager für die Verschickung von „lebensunwertem Leben“ für die Vernichtung in Grafeneck wurde eine ernsthafte Behandlung der Kranken aufgegeben. Der neue, nach Zwiefalten strafversetzte Klinikleiter Dr. Alfons Stegmann sorgte für einen reibungslosen Ablauf der Tötungstransporte mit den „grauen Bussen“ nach Grafeneck. Am 9. Mai 1940 musste Dr. Paul H. Moos in einen dieser Busse einsteigen und wurde am selben Tag in Grafeneck vergast.

Franz Rudolf Moos, in Ulm am 30. Juli 1910 geboren, war der Nachzügler der Familie. Er verbrachte seine Kindheit in der geräumigen Wohnung auf der Promenade 7, aus dem Fenster seines Zimmers konnte er den Münsterturm sehen. Viele Jahre später schrieb er in einem 1976 verfassten Gedicht über seine Mutter, wie sie an seinem Kinderbett Märchen vorlas, „draussen lag auf den Dächern der Schnee, genau in der Mitte stieg dunkel der Münsterturm…“ Vom Vater erzählte er später, wie sehr er ihn verehrt hat, obwohl er sehr streng war.Seine Erziehung war modern und nicht religiös, er hatte auch keine Bar Mitzvah. Sein bester Freund in der Schulzeit war Ernst Mann, der Sohn des mit der Familie befreundeten Rechtsanwalts und Stadtrats Siegfried Mann.

Rudolf verlor seinen Vater, als er gerade 16 Jahre alt war. Er ging noch ins Gymnasium und hatte vorgehabt nach der Reifeprüfung Jura zu studieren. Jetzt musste geklärt werden, ob seine Mutter Selma das Studium überhaupt bezahlen konnte. Der gleichnamige Onkel Rudolf Moos in Berlin (geschäftlich der erfolgreichste in der Familie) wollte, dass Rudolf seine Studienpläne aufgab und stattdessen eine Kaufmannslehre machte. Zum Glück unterstützte nicht nur Selma ein Studium sondern auch die Tante Henriette. Ihr Mann Sigmund Veit war Eigentümer einer Filztuchfabrik in Göppingen und gab Selma das Geld für Rudolfs Studium. Am Ende half auch Onkel Rudolf mit.

Rudolf Moos studierte Jura in Heidelberg, München, Berlin und Tübingen, wo er wahrscheinlich wieder seinem Freund Ernst Mann begegnete. Im Frühjahr 1932 bestand er die erste höhere Justizdienstprüfung. Zu dieser Zeit dachten beide, dass der Nationalsozialismus und der Antisemitismus in Deutschland noch zu besiegen seien. Rudolf betätigte sich aktiv in der Arbeit der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, eine gegen den Antisemitismus in den Universitäten gerichtete studentische Organisation, die schon im 19. Jahrhundert gegründet worden war. Anschließend begann er mit der praktischen Ausbildung als Rechtsreferendar, die er auch in Ulm absolvieren konnte. Es ist unbekannt, ob er zu dieser Zeit auf der Promenade 7 oder mit Paul in der Frauenstraße 50 wohnte.

Wie bei seinem Bruder Paul, bedeutete die Machtergreifung Adolf Hitlers den Zusammenbruch sämtlicher beruflichen Pläne in Deutschland. Mitte 1933 wurde Rudolf Moos ein Opfer des auf Juden und politische Gegner zielenden „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und zwangsweise aus dem höheren Vorbereitungsdienst entlassen. Damit war die Zeit für die Familie in Ulm vorbei. Auch die Rechtsanwaltskanzlei, an der Selma immer noch stille Teilhaberin war, warf keinen Ertrag mehr ab und ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten drohten.

In dieser Zeit kam wieder Hilfe von der Familie Veit in Göppingen. Sigmund Veit war 1928 gestorben, aber sein Sohn Karl leitete jetzt die Fabrik und stellte Rudolf als Kaufmann in der Firma ein. Nach Auskunft des Bürgermeisteramtes in Ulm waren Rudolf und Selma spätestens 1935 nach Göppingen verzogen, wohin auch das Familienregister übergeben wurde. Dort zogen sie in das kürzlich durch den Tod von Sigmund Veits Schwester Emma Levy leer gewordene Haus Östliche Ringstraße 52, das von Karl und seiner Schwester Emilie Ott geerbt worden war.

An vieles in der folgenden Zeit wollte Rudolf sich später nicht gern zurückerinnern. Insbesonders sein Unvermögen seinen zwei älteren Brüder zu helfen war ihm sehr schmerzlich. Richard, der 2. Sohn der Familie, hatte eine kaufmännische Lehre in der Textilindustrie gemacht und war nach Mailand ausgewandert. Immer klein und schmächtig, wurde er später krank und wendete sich 1936 aus Italien hilfesuchend an Rudolf. Dieser holte ihn dann nach Göppingen, aber Richard verweigerte zunehmend das Essen. Am 16. August 1936 wurde er in eine Stuttgarter Privatklinik verlegt, wo er wenig später starb.

Schon im Folgejahr kam die Nachricht von Pauls Einlieferung in das Westport Sanatorium in Connecticut. Als er zurück nach Deutschland geschickt wurde, fiel die Aufgabe eine Klinik zu suchen auf Rudolf und Selma. Nicht einmal zwei Monate nachdem Paul in Zwiefalten eingeliefert wurde, folgte der Antrag auf Unfruchtbarmachung. Im Göppinger Vormundschaftsgericht wurde Rudolf genötigt, die Pflegschaft für seinen großen Bruder zu übernehmen. In einer anschließenden Verhandlung des Amtsgerichts von Ulm als Erbgesundheitsgericht am 15. Juni 1938 musste Rudolf der Unfruchtbarmachung seines Bruders Pauls zustimmen.

Einzig und allein die neue Liebe zu Ellen Heinemann aus Dortmund, die er in der Filztuchfabrik kennenlernte, machte wohl diese Zeit erträglich. Sie heirateten in Göppingen am 30. Juli 1937. Danach reifte schnell der Entschluss Deutschland zu entfliehen. Es ist nicht bekannt, in welchen anderen Ländern Rudolf Moos es versucht hatte, eine Einreiseerlaubnis zu bekommen, aber im Herbst 1938 bekamen er und seine Frau Visa für Brasilien. Die Wohnung in der Östlichen Ringstraße wurde zum 1. November aufgegeben und bis zur Abreise aus Göppingen wurden Zimmer im seit 1936 auch als jüdisches Gemeindehaus verwendeten Hotel Dettelbacher bezogen.
Aus diesem Hotel in der Bahnhofstraße wurde Rudolf Moos in der von der Hitler-Regierung angezettelten Pogromnacht am 9. November 1938 mit anderen dort zusammengetriebenen Göppinger Juden von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen. Zuerst hatten SA Männer das Hotel verwüstet und zum Teil zerstört. Mit Bussen wurden sie am nächsten Tag nach Dachau gefahren. Später erzählte er seiner Tochter, wie er im KZ um 4 Uhr morgens nackt in einer Reihe im Schnee stehen musste, neben ihm ein Bekannter mit Schädelbruch, der nicht richtig stehen konnte. „Dieser wurde angebrüllt und gesagt, er solle gerade stehen und da er nicht konnte, wurde er mit einem Knüppel auf den Kopf geschlagen und fiel zu Boden. Mein Vater hat gesagt, er konnte sich nicht rühren um ihn aufzunehmen, weil er sonst den nächsten Hieb bekommen hätte“.

Nach ein paar Wochen konnte er seine Entlassung aus Dachau unter der Bedingung der sofortigen Ausreise aus Deutschland erreichen. Am 29. November verließen Rudolf und Ellen Göppingen und begannen die lange Reise. Am 6. Januar 1939 kamen sie mit wenig Hab und Gut und ohne Portugiesischkenntnisse in Sao Paolo an. Schon nach 14 Tagen fand Rudolf eine ausreichend bezahlte Arbeit als deutscher Korrespondent, die aber wegen Abbruch des Kontakts zu Deutschland nach Kriegsbeginn nicht lange dauerte. Stattdessen wurde er kommerzieller Vertreter der Stadt und des Staates Sao Paulo für Matratzenmaterial.

Rudolf Moos (1910-1995)

Rudolf Moos (1910-1995)

Ellen fand zuerst Arbeit als Putzfrau, dann als Gouvernante, anschließend eröffnete sie eine kleine Strickwarenfabrik. Am 21. Dezember 1940 brachte sie die Tochter Claudia Renate zur Welt. Leider entwickelte sich die Ehe in den Folgejahren nicht gut und wurde geschieden als Claudia 8 Jahre alt war. Rudolf behielt aber eine gute Beziehung zu seiner Tochter und verbrachte oft Wochenenden mit ihr. Er wohnte allein oder mit Freunden und hatte eine schwäbische Haushälterin, die für ihn Spätzle kochte.
Rudolf war der einzige seiner elterlichen Familie, der nach dem 2. Weltkrieg noch lebte. Er blieb sein ganzes Leben lang in Sao Paolo, reiste aber regelmäßig nach Amerika und Europa um Freunde und Verwandte unter anderem aus der Ulmer Zeit zu besuchen. Er knüpfte auch wieder Kontakte nach Ulm und besuchte die Stadt bei jeder Europareise.

Nach vielen Jahren, als er schon sein fünfzigstes Lebensjahr erreicht hatte, lernte er seine zweite Frau Ruth Schnitzler kennen, eine Wienerin, die in der Nazizeit erst nach England und dann mit ihrer Familie nach Brasilien geflohen war. Sie war ehrenamtlich vielfach in der jüdischen Sozialarbeit in Sao Paolo tätig, dadurch bekam Rudolf wieder etwas Kontakt zur jüdischen Gemeinde. Er und Ruth heirateten Ende 1960. Mit 65 Jahren ging Rudolf in Rente, arbeitete aber bis 1982 weiter in einer zweiten Karriere als Deutschlehrer.

Zehn Tage nach der Hochzeit von Rudolf und Ruth heiratete auch Rudolfs Tochter Claudia den Brasilianer Thomas Metzler. Sie bekamen drei Kinder, die wiederum vier Kinder hatten, die Enkelkinder Rudolfs. Sie leben zum Tiel in Brasilien und zum Teil in Deutschland.

Ruth Moos berichtete, dass Rudolf Moos sein ganzes Leben eine Verbundenheit zu seiner Heimatstadt empfand. Er blieb deutscher Staatsbürger und in den letzten Wochen seines Lebens äußerte er öfters den Wunsch, zurück „nach Hause“ zu fahren. Er starb in Sao Paolo am 8. Juli 1995.

Selma Moos, geb. Gutmann wurde am 3. Dezember 1877 in München geboren. Als drittes von vier Kindern wuchs sie dort in einer wohlhabenden Familie auf. Die aus Hainsfarth in der Nähe von Nördlingen stammende Familie ihres Vaters Jonas Gutmann hatte in München ein gutgehendes Geschäft für Textilwaren aufgebaut und in der Schwanthalerstraße ein in ganz Bayern bekanntes Kaufhaus eröffnet, wo auch ihr älterer Bruder arbeitete. Ihr jüngerer Bruder Franz Gutmann wurde Professor für Wirtschaftswissenschaft in Jena, Breslau, Göttingen und nach der Flucht aus Deutschland in North Carolina.

Selmas Mutter Clementine geb. Neuburger stammte aus einer Buchauer Familie mit vielen Verbindungen nach Ulm. Ihre Schwester Charlotte Neuburger heiratete Samuel Wallersteiner und die Kinder aus dieser Ehe (Cousins von Selma) wurden in Ulm bekannte Persönlichkeiten, Hugo Wallersteiner als Arzt (auch der Familie Moos) und Vorsitzender des Ulmer Fussballvereins und Leopold Wallersteiner als Besitzer des Konfektionshauses am Hauptwachplatz. Auch Selmas Schwester Gisela heiratete in Ulm Gustav Lebrecht.

Die Hochzeit mit Alfred Moos am 28. Oktober 1901 war in der Erinnerung eines der Brüder Alfreds eine prunkvolle Affäre mit 60 Gästen aus Ulm, München und anderen Orten, die im Hotel Bayerischen Hof untergebracht wurden. In einer ausgedehnten Feier wurde das Hochzeitspaar mit Reden und Skizzen in der damals gerade modisch gewordenen Kabaret-Form gewürdigt.

Selma Moos mit Paul, Rudolf und Richard (v.l.n.r.)

Selma Moos mit Paul, Rudolf und Richard (v.l.n.r.)

Im Laufe der nächsten drei Jahrzehnte zog sie drei Söhne groß und dies auch in den schwierigen Zeiten des 1. Weltkriegs. Später wurde von ihr gesagt, dass sie eine zarte Persönlichkeit war mit einer etwas empfindlichen Gesundheit und nichts deutet daraufhin, ob sie gern im Vordergrund agierte. Damit entsprach sie wohl der damals gängigen Rolle der Frau in der Gesellschaft. Stolz war sie sicherlich auf die Erfolge ihres ältesten und ihres jüngsten Sohnes. Sorge bereitete ihr gleichwohl der zweitälteste Sprössling. Der am 7. September 1903 geborene Richard war immer sehr klein für sein Alter. Onkel Rudolf in Berlin fand später, dass er selbst mit 20 Jahren eher wie ein 13-Jähriger aussah. Er überwand die dadurch entstandene Benachteilung in der Schule durch eine außerordentlich starke Energie und Motivation.

Der frühe Tod ihres Mannes war unerwartet. Im September 1926 wurde Alfred in der Privatklinik Johanneum in der Parkstraße wegen eines Magengeschwürs operiert. Dabei wurde Krebs im fortgeschrittenen Stadium entdeckt. Die Zeit bis zu seinem Tod benutzte er, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Er konnte einen Kollegen an seiner Rechtsanwaltskanzlei teilhaben lassen, der dafür in den folgenden Jahren Selma und die Söhne finanziell unterstützen würde. Er starb am 22. Oktober 1926. Von Verwandten und Freunden bekam die Familie in der Folgezeit viel Unterstützung.

Selma blieb in der Wohnung auf der Promenade 7 bis 1933, als Paul seinen Weg in die Selbständigkeit wagte und sie mit ihm in die Praxiswohnung in der Frauenstraße 50 zog. Wohl keiner von ihnen hat das Ausmaß der für sie ganz persönlich katastrophalen Entwicklung nach der Machtergreifung Hitlers in 1933 vorausgesehen. Im Folgejahr nahm sich Selmas Schwester das Leben. Als Paul dann in die USA ging, zog Selma spätestens 1935 mit Rudolf nach Göppingen zu Verwandten ihres Mannes. Sie war durch die Ereignisse der letzten Jahre schwer getroffen, litt unter Depression und hielt sich zum Teil in einem Sanatorium in Badenweiler auf. Sie war sicherlich traurig und verzweifelt über das Schicksal ihrer Söhne Richard und Paul. Als Rudolf und seine Frau im November 1938 die Wohnung in Göppingen aufgaben, zog Selma nach Mannheim zu Dr. Ludwig Mann, einem Nervenarzt, der noch eine kleine Klinik für seine Patienten bei sich zuhause betrieb.

Gedenken an meine MutterLudwig Mann war der Bruder des mit der Moos Familie eng befreundeten Siegfried Mann in Ulm. Möglicherweise wohnte Selma schon bei ihm in Mannheim, als er am 10. November 1938 festgenommen wurde und nach Dachau deportiert werden sollte. Wegen seines Alters wurde er aber am nächsten Tag wieder freigelassen. Selma wartete auf Nachrichten von ihrem Sohn Rudolf. Sobald dieser Brasilien Anfang 1939 erreichte, versuchte er für seine Mutter ein Visum zu bekommen, auch der Cousin Albert Einstein kontaktierte den brasilianischen Konsul in den USA; alles blieb aber ohne Erfolg.

Am 22. Oktober 1940 wurde Selma Moos mit Ludwig Mann und seiner Frau und allen anderen Juden aus Baden nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Adolf Hitler und seine Gauleiter Wagner und Bürckel benutzten die Gelegenheit der französischen Kapitulation um Baden und Saarpfalz als erste Gebiete in Deutschland „judenfrei“ zu machen. Gurs in Vichy-Frankreich war ein ehemaliges Internierungslager für Spanienkämpfer und Flüchtlinge und bestand aus unzähligen Holzbaracken auf unbefestigtem Boden, die nur zum Teil mit Schlafplätzen ausgestattet waren. Am Anfang mussten viele der Deportierten auf dem nassen Boden schlafen, später auf Strohsäcken. Viele starben in den ersten Wochen, nur langsam schafften es die Eingesperrten mit Hilfslieferungen von Wohlfahrtsorganisationen die Zustände zu verbessern. Dr. Ludwig Mann wurde Lagerarzt und Selma half als Krankenschwester.

Selma Moos schaffte es trotz ihrer empfindlichen Gesundheit in Gurs zu überleben, aber 1942 wurde sie für den bevorstehenden Transport nach Auschwitz am 6. August selektiert. Sie war so geschwächt, dass sie schon am 7. August 1942 im Transitlager Drancy starb.

Quellen:

  • Ingo Bergmann, Und erinnere dich immer an mich, Gedenkbuch für die Ulmer Opfer des Holocaust, Ulm 2009.
  • Adressbücher der Stadt Ulm
  • Heinz Keil, Dokumentation über die Verfolgungen der jüdischen Bürger von Ulm/Donau, 1961.
  • Rudolf Hugo Moos, Journey of Hope and Despair, XLibris Corporation, USA 2010.
  • Briefliche Mitteilungen von Claudia Metzler, Brasilien
  • Briefliche Mitteilungen von Ruth Moos, Israel.
  • Recherche der Stolperstein-Initiative Göppingen
  • Stadtarchiv Göppingen: Meldekarteien und Adressbücher
  • Staatsarchiv Ludwigsburg: Familien Register der jüdischen Gemeinde Ulms, Wiedergutmachungsakten, Erbgesundheitsakte
  • Stadtarchiv Mannheim: Meldeunterlagen
  • Archiv der Universität Heidelberg: Studien- und Promotionsakten
  • U.S. Citizenship and Immigration Services History Office: Einwanderungsakte

Autor: Mark Tritsch

Bildrechte: Stadtarchiv Ulm, Südwest Presse, Ruth Moos

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