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Familie Oettinger

Stolpersteine Sattlergasse 16 (heute Neue Straße 76)

Moritz (Moses) und Babette Oettinger (geb. Hess) hatten drei Kinder: Martha (1888), Albert (1890) und Julius (1899). Julius starb im Ersten Weltkrieg; Martha wurde nach Izbica deportiert und ermordet; Albert und Babette konnten in die USA fliehen.

Der Familienvorstand Moritz Oettinger kam ursprünglich aus Laupheim und verstarb am 03.01.1931. Er war eines von 8 Kindern von Seligmann Oettinger, der 1846 die erste Zeitung Laupheims, das „Amts- und Intelligenzblatt“ für den Oberamtsbezirk, herausgeben hat. Babette Oettingers Großvater Isaak Hess hatte in Ellwangen ein Buchantiquariat, das eines der hervorragendsten der damaligen Zeit war. Er war Vorstand der jüdischen Gemeinde in Lauchheim und hatte bei der Emanzipationsbewegung der württembergischen Juden im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle inne.

Moritz Oettinger war sehr religiös und hatte in der jüdischen Gemeinde in Ulm ein hohes Ansehen, wie sich aus seiner Todesanzeige herauslesen lässt. „Er gehörte aber auch zu den wenigen unserer Gemeinde, die es verstanden, vorzubeten und aus der Tora zu lesen.

Artikel in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 15. Januar 1931:
Ulm, 4. Januar (1931). Durch den Heimgang von Moritz Oettinger, der nahezu 77 Jahre alt wurde, hat das religiöse Gemeindeleben eine fühlbare Lücke erfahren. Sowohl im Wohltätigkeits- wie im Wanderarmenverein hat er sich ein ganzes Menschenalter geradezu vorbildlich betätigt. Für ihn war es selbstverständlich, bei jeder Taharoh (Leichenwaschung) zugegen zu sein. Ebenso war ihm Bikkur Cholim (Krankenbesuch) eine aufrichtige Herzensangelegenheit. In der Synagoge vermisste man ihn nur, wenn er durch Krankheit zurückgehalten wurde. Sein ausgeprägter Wohltätigkeitssinn und seine Spenden beim Aufrufen zur Tora ließen den edlen Charakter dieses wackeren Mannes aufs Beste erkennen. Dieses, sein liebevolles, gütiges Wesen kam auch in einem schönen Familienleben voll und ganz zur Geltung. Allerdings wurde dasselbe durch den Verlust eines hoffnungsvollen Sohnes auf dem Felde der Ehre schmerzlich getrübt. In unserer Gemeinde wird dem Dahingegangenen ein dankbares Gedenken bewahrt bleiben. Seine Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens.

Die Gebrüder David und Moritz Oettinger mit zuletzt Moritz Oettinger als alleinigem Inhaber hatten in der Sattlergasse 16 ab ca. 1886 bis Anfang der 1920er Jahre ein Handelsunternehmen für Rauchutensilien (Import/Export). Beide Söhne von Moritz waren im ersten Weltkrieg. Julius starb am 21. April 1917 als Angehöriger einer Feldfliegerabteilung im sächsischen Zeithein.

Babette Oettinger und die Tochter Martha sowie der Sohn Albert lebten und arbeiteten weiter bis 1941 in den oberen Stockwerken vom Haus Sattlergasse 16. Das Haus befand sich zu dieser Zeit im Eigentum der Familie und wurde nach der Emigration von Babette und Albert Oettinger sowie der Deportation von Martha Oettinger 1941 vom Deutschen Reich eingezogen. Vorher hatten Babette und Albert Oettinger aus den USA noch erfolglos versucht das Grundstück zu verkaufen.Es wurde beim Luftangriff am 17. Juli 1944 zerstört. Nach dem Krieg konnte Babette Oettinger über Anwälte erreichen, dass das Grundstück in einem Vergleich zurückerstattet wurde. Es wurde danach weiterverkauft.

 

Das rechte Gebäude war die Sattlergasse 16

 

Babette war Hausfrau. Zusammen mit ihrem Sohn Albert emigrierte sie 1941 in die USA. Sie verstarb am 13. Februar 1951 in New York.

Martha Oettinger hatte eine psychische Erkrankung. Bei einem einwöchigen Aufenthalt 1928 in der Heilanstalt Christophsbad bei Göppingen wurde Schizophrenie diagnostiziert. In der damaligen Patientenakte ist vermerkt, dass die Erkrankung im Alter von 20 Jahren begann. Wegen ihrer Krankheit war sie 1935 noch weitere vier Monate in der Anstalt Schussenried. In diesem Jahr wurde sie wegen Geisteskrankheit auch entmündigt. Die Entmündigung wurde Ende 1941 wieder aufgehoben. Sie lebte bis 1940 zuhause und hatte einen Pfleger.

Albert war kurze Zeit mit Mally Thalmann verheiratet, wurde aber bald wieder geschieden. In jungen Jahren war er in einem Ulmer Turnverein. Er war ein Liebhaber von guten Zigarren. Offensichtlich wollte Albert das Handelsunternehmen des Vaters mit Rauchutensilien nicht fortführen, sondern machte sich 1918 mit einem eigenen Handelsunternehmen für Drahtseile und Geflechte selbstständig.
Er fertigte Siebe mit Holzrand sowie sonstige Drahterzeugnisse und verkaufte Drahtzäune. Er hatte einen Arbeiter und vergab einen Großteil als Heimarbeit. Zu seinen Kunden gehörten unter anderem die „Luftschiffbau Zeppelin“ in Friedrichshafen. Am 9. November 1938 wurde er bei der Reichskristallnacht verhaftet und kam in das KZ Dachau (11. November bis 12. Dezember 1938). Da er Soldat im 1. Weltkrieg war, wurde er wieder entlassen. Nach seiner Haftentlassung war es ihm nicht mehr möglich sein Geschäft weiterzuführen.

Kosten der Flucht

Zusammen mit der Mutter konnte Albert am 17. Juli 1941 in die USA emigrieren.Die Reiseroute führte durch halb Europa nach Sevilla mit den Stationen: Berlin – Frankfurt – Paris – Bordeaux – Irun – Madrid-Sevilla. Von dort ging es mit dem kleinen 6000 t Dampfer SS Navemar nach New York. Der American Jewish Joint Distribution Committee („the joint“) lotste damals jüdische Flüchtlinge nach Sevilla, wo die SS Navemar privat gechartert wurde. Die Kosten für die Reise und die Tickets waren sehr hoch: 475 Reichsmark bis zur spanischen Grenze, dann noch US $ 1250 von Irun über Sevilla nach New York. Für die Reise ab der spanischen Grenze hatten sie finanzielle Unterstützung durch David Stern, einen weitläufigen Verwandten, der bei American Express Einzahlungen tätigte.

Rund 1100 Flüchtlinge waren auf dem Schiff. Es war eigentlich ein Frachtschiff, das zuletzt Kohle transportiert hatte und in das nun Kojen eingebaut wurden. Das Schiff war ein „Seelenverkäufer“ mit katastrophalen hygienischen Bedingungen. Sieben Passagiere starben. Einige Tage gab es kein frisches Wasser. Die Passagiere nannten ihr Schiff „Nevermore“. Die SS Navemar lief am 7. August 1941 in Sevilla aus und erreichte mit Zwischenstopps in Lissabon und Havanna am 13. September 1941 New York. Nach ihrer Flucht aus Ulm waren Babette und Albert Oettinger rund zwei Monate unterwegs. Mit eigenem Haus und Auto (ein Opel) war die Familie Oettinger in Ulm gut situiert gewesen. Bei der Ankunft in New York hatten beide nur noch US $ 1.35.

Als Albert noch keine Anstellung hatte, wurde er von einer jüdischen Organisation „in anerkennender Weise versorgt“, wie er es selbst formulierte. Mutter und Sohn erhielten 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Am Anfang arbeitete Albert ab November 1941 als Aushilfe in der Küche des Jewish Hospital für monatlich US $ 45, dann in einer Schuhfabrik für US $ 22 die Woche. Schließlich machte er noch eine Ausbildung zum Schweisser und Schiffsschlosser. Er arbeitete unter anderem bei Werften für Schleppschiffe und große Ozeandampfer.

Albert wohnte einige Jahre im Stadtteil Brooklyn in der Caroll Street. Er hat sich dort zunehmend unwohl gefühlt, da es immer mehr Überfälle auf Passanten und Anschläge auf die Synagoge gab. Schließlich gelang es ihm in den südlichen Teil von Brooklyn umzuziehen in die Nähe der Sheepshead Bay. Dort fühlte er sich zunächst wohl, da er das Baden im Meer liebte und nur 15 Minuten dorthin hatte.
Im hohen Alter von 80 Jahren wanderte er noch nach Chile aus und kam am 3. August 1970 in Santiago der Chile an. Weshalb er im hohen Alter noch umzog, ist unklar. Möglicherweise hat die Sicherheitslage in New York dazu beigetragen, über die er im Briefwechsel mit Eugen Kuhlmann immer wieder geklagt hat. Vielleicht war es aber auch die Freundschaft zu einem deutschstämmigen Ehepaar in Santiago, mit dem er in intensivem Kontakt stand.

In Chile hat er sich nach einiger Zeit aufgrund der politischen Situation auch nicht mehr wohl gefühlt und darüber sinniert, ob er im hohen Alter „noch einmal den Wanderstab ergreifen muss“. Amerikaner waren zu dieser Zeit hier nicht gut angesehen. Sehr gerne wäre er neben seiner Mutter im Cedar Park beerdigt worden. Er hatte sich in seiner New Yorker Zeit sogar schon ein Grab gekauft. Aber eine Rückkehr nach New York war ihm zu unsicher. Albert verstarb am 11. November 1976 um 15.00 Uhr nachmittags im hohen Alter von 86 Jahren an Herzversagen. 1958 hatte er seine alte Heimat Ulm noch einmal besucht.

Martha Oettinger

Nachdem Mutter und Bruder Albert im Sommer 1941 in die USA emigrierten, lebte Martha alleine im Haus. Eine frühere Mitbewohnerin erzählte nach dem Krieg, dass sie in Ulm eines Nachts von einem Kriminalbeamten abgeholt wurde und danach nicht mehr wiedergesehen wurde. Am 28.11.1941 wurde sie von Ulm zunächst nach Stuttgart in das Sammellager Killesberg gebracht. Ursprünglich sollte sie bereits am 1.12.1941 nach Riga deportiert werden, wurde aber mit einer zweiten Frau als reiseunfähig zurückgestellt. Sie wurde für einige Tage in einem jüdischen Altersheim in der Stuttgarter Heidehofstraße gebracht aber dann am 5.12.1941 in das Bürgerhospital Stuttgart eingewiesen. Prof. Wetzel als Leiter des Bürgerhospitals hat sich intensiv mit Martha beschäftigt. Er schrieb damals in seiner ärztlichen Diagnose, dass sich ihr Gesundheitszustand erheblich gebessert hat und hat auch infrage gestellt, ob sie aus medizinischer Sicht in eine Anstalt gehört. Martha selbst hat sehr willensstark dagegen angekämpft in eine Anstalt eingewiesen zu werden, indem sie versucht hat mit Briefen an Verwandte und Bekannte Unterstützung zu bekommen. Aus Mangel an alternativen Unterbringungsmöglichkeiten und letztlich weil sie Jüdin war, wurde Martha vom Bürgerhospital aus am 10.2. 1942 in die früher sehr angesehene Jacobysche Heil- und Pflegeanstalt in Saen-Bensdorf (Israelitische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke 1869 – 1942) überführt.

Der in Sayn lebende Kaufmann Meier Jacoby begründete 1869 seinen Antrag auf die Konzession für eine eigene jüdische Heilanstalt mit folgenden Worten: „Ich hatte oft gehört, dass die in streng jüdischen Häusern aufgewachsenen Nervenkranken nur mit Widerwillen nicht koschere Kost genießen, dass sie solche Nahrung wohl ganz verweigern oder sich durch den Genuss der Speisen zu versündigen glauben, dass sie namentlich von weniger gebildeten Patienten und Wärtern wegen ihres Glaubens gehänselt werden usw. – Umstände, die Nerven- und Gemütskranke gewiss ungünstig beeinflussen müssen.“ In den ersten Jahren des Nationalsozialismus blieb die Jacoby’sche Anstalt relativ unbehelligt. Aber Ende 1938 mussten – bis auf drei – alle nichtjüdischen Arbeitskräfte entlassen werden. An ihre Stelle traten jüdische Hilfskräfte, die ihre ursprünglichen Arbeitsplätze verloren hatten.

Die Familie Jacoby konnte im Juni 1940 über die Sowjetunion und Japan nach Uruguay auswandern. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt, seine Verwaltung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland übertragen. Dies war eine von den Nationalsozialisten veranlasste Zwangsvereinigung, die nur Befehle auszuführen hatte. Ein Runderlass des Innenministeriums vom 12.12.1940 bestimmte, dass „geisteskranke Juden“, da ein „Zusammenwohnen Deutscher mit Juden auf die Dauer nicht tragbar ist“, nur noch in Sayn aufgenommen werden durften. Die Möglichkeit, die Patienten an einem Ort zu konzentrieren, diente der Vorbereitung derDeportationen.

Alle Insassen der Anstalt wurden 1942 in fünf Transporten nach Izbica deportiert und ermordet. Martha war bei der ersten Deportation am 27.3.1942 dabei.

Quellen:

• Heinz Keil: Dokumentation über die Verfolgungen der jüdischen Bürger von Ulm/Donau, 1961
• Nachlass Heinz Keil
• Adressbücher der Stadt Ulm
• Staatsarchiv Ludwigsburg: Familienregister der jüdischen Gemeinde Ulms, Wiedergutmachungsakten, Patientenakte Martha Oettinger
• Hauptstaatsarchiv Stuttgart: Personenstandsregister jüdischer Gemeinden in Baden-Württemberg
• Stadtarchiv Stuttgart: Patientenakte Martha Oettinger
• Ingo Bergmann, Und erinnere dich immer an mich, Gedenkbuch für die Ulmer Opfer des Holocaust, Ulm 2009.
• Nachlass Ingo Bergmann
• AlemaniaJudaica: Texte/Berichte zur jüdischen Geschichte der Stadt Ulm im 19./20. Jahrhundert
• Arolsen Archives: Recherchen von Albert Oettinger nach seiner Schwester Martha Oettinger nach dem Krieg
• Wikipedia: Geschichte der SS Navemar
• Leo Baeck Institute: Korrespondenz Albert Oettinger mit Eugen Kuhlmann
• Pressreader der Schwäbischen Zeitung: Seligmann Oettinger
• Dietrich Schabow: Die Isrealitische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke (Jacoby`sche Anstalt, 1869 – 1942) und die spätere Verwendung der Gebäude (in: Die Heil- und Pflegeanstalten für Nerven und Gemütskranke in Bendorf; Herausgeber: Rheinisches Eisenkunstguss-Museum, Bendorf-Sayn 2008)
• Homepage der Stadt Bendorf: Die ehemaligeJacoby´scheAnstalt in Bendorf-Sayn

Autor: Bernd Neidhart

Bildrechte: Stadtarchiv Ulm, Stadtarchiv Stuttgart