Ingo Bergmanns Gedenkbuch für die Ulmer Opfer des Holocaust schildert auf Seite 156 das Leben von Hedwig Ury, geborener Ullmann. Unten auf der Seite fällt gleich der Blick auf das Hochzeitsbild. Hedwig sitzt am Tisch in Brautkleid mit Blumen und Schleier an den dunklen Haaren, sie hat ein Gesicht von klassischer Schönheit mit ernstem Ausdruck und einer auffallenden Ausstrahlung. Neben ihr links sitzt ihr Vater Nathan Ullmann in Frack, rechts der Bräutigam Sigmar Ury in Offiziersuniform (es ist 1915, mitten im Krieg). Es ist ein Bild aus der deutschen Mittelschicht von Menschen, deren Zukunft und Platz in Deutschland sicher erscheint.
Hedwig Ullmann wurde am 26 Februar 1894 in Ulm geboren. Ihr Vater Nathan war Kaufmann und baute zusammen mit seinem Bruder und seinem Schwager die Großhandelsfirma Kohn und Ullmann auf, die hauptsächlich Kleiderstoffe verkaufte. Mutter Betty, geborene Winkler kam ebenfalls aus einer Kaufmannsfamilie – ihr Vater führte die Malzfabrik Winkler im Hafenbad, Ecke Bärengasse. Das von ihm eingeführte Backmittel „Ulmer Spatz“ wird bis heute überall in Deutschland verkauft.
In den Jahren des wirtschaftlichen Erfolgs nach der Jahrhundertwende besserten sich die Lebensbedingungen der Ullmann-Familien. Nathan Ullmann fand eine große Wohnung in der Olgastraße 67, Ecke Neithardtstraße mit Platz auch für Hedwigs kleine Schwester Mariele. Dort verbrachte Hedwig die Jahre ihrer Jugend. Ab 1901 besuchte sie die Höhere Mädchenschule in der Steingasse. Sie schrieb später ein gepflegtes, vornehmes Deutsch und hatte auch Englisch gelernt. Sicherlich besuchte sie oft Onkel Wilhelm und ihre Kusinen im neuen Haus am Bismarckring, wo auch die Firma untergebracht war.
Viele jüdische Familien in Ulm waren nationalliberal in ihrer politischen Überzeugung. Als 1914 (Hedwig war gerade 20) die politischen Eliten Europas den Kontinent in einen Krieg stürzten, wollten sie zeigen, dass die Juden Deutschlands zum Vaterland standen. Auch Hedwig Urys Cousins Ernst und Robert Ullmann und Albert Eckstein meldeten sich zum Dienst mit der Waffe. Vielleicht hatte Hedwig schon vor dem Krieg den Arzt Sigmar Ury kennengelernt.
Sigmar Ury war 1880 in Berlin geboren worden. Er studierte Medizin in Berlin und Greifswald und wurde 1905 in Rostock zum Dr. med. promoviert. Nach Ulm kam er, weil er dort eine Assistenzarztstelle am Städtischen Krankenhaus fand. Nach seiner Zeit als Assistenzarzt eröffnete er eine Praxis als Kinderarzt oberhalb des Cafes Mohrenköpfle an der Zinglerbrücke. Bei Kriegsbeginn meldete er sich als Stabsarzt an die Front. Während eines Fronturlaubs 1915 heiratete er die schöne Hedwig.
Trotz des politischen und wirtschaftlichen Chaos am Ende des Kriegs, konnte Sigmar Ury nach der Ausmusterung schon 1919 eine neue Arztpraxis in einer schönen großen Wohnung oberhalb der Schiller Apotheke in der Zinglerstrasse einrichten. Dort brachte Hedwig im November 1920 den Sohn Peter zur Welt. Die Praxis florierte, Hedwig übernahm den Empfang der Patienten, assistierte bei Behandlungen, organisierte die Patientenakten.
Bald zeigte sich, dass Sohn Peter, so wie Vater Sigmar, musikalisch begabt war. Sigmar war führender Tenor in der Ulmer Liedertafel und im Synagogenchor (der auch viele weltliche Konzerte gab). Hans Peter bekam Klavierunterricht von Fritz Hayn, dem damaligen Leiter der Kirchenmusik am Ulmer Münster und Dirigenten mehrerer Ulmer Chöre. In der Wohnung wurde das Eckzimmer mit einem Flügel für kleine Hauskonzerte ausgestattet.
Das Familienleben war durch Wärme und tiefe Zuneigung zueinander geprägt. Bedingt durch eine etwas distanzierte Haltung zur Religion wurde kein koscherer Haushalt geführt und überhaupt wollte man eine Modernisierung vieler jüdischer Gebräuche. Sigmar hatte wenig Kontakt mit Verwandten aber dafür durch Liedertafel und Veteranenverein einen großen Freundeskreis. Hedwig pflegte sicherlich die Beziehungen zu ihrer weitverzweigten Ulmer Verwandtschaft, wobei diese möglicherweise gelegentlich durch einen ihr nachgesagten Hang zu undiplomatischen Bemerkungen gestört wurden.
Mit der Machtergreifung durch Adolf Hitler ging diese glückliche Zeit zu Ende. Bald erschien Sigmar Urys Name in der Liste der Juden, die boykottiert werden sollten. Es waren nicht wenige der liberal eingestellten Juden in Ulm, die trotz ihrer Verzweiflung über die Boykottaufrufe der Nazis und der Hetztiraden gegen Juden auf bessere Zeiten hofften und glaubten, dass die deutschen Tugenden für diese sorgen würden. Auch wurden viele ehemalige Frontkämpfer unter den Juden, so auch Sigmar Ury, von Maßnahmen wie Berufsverbot und Kassenausschluss für Ärzte vorerst ausgenommen. Aber der Druck von Partei, Blockwarten, Nazipresse, SA und Gestapo sorgte für eine zunehmende Befolgung des Boykotts durch Ulmer Bürger. 1935 erschien in dem Nazi Hetzblatt „Stürmer“ der Aufruf an die Ulmer Ortsgruppe des Reichsverbandes Deutsche Offiziere endlich den „Pfundsjuden“ Sigmar Ury hinauszuwerfen.
Trotzdem fassten in den ersten Jahren der Verfolgung weder die Urys noch näher verwandte Familien schon den Entschluss, aus Deutschland zu fliehen. In dieser Zeit entstand ein Foto, möglicherweise beim 80. Geburtstag von Hedwigs Vater, das wieder von der Ausstrahlung von Hedwig und ihrem Vater beherrscht wird. Nathan sitzt in der Mitte mit verschränkten Armen und einem breiten Lächeln, neben ihm die jetzt schnell aufwachsenden Enkelkinder, die sich einfach wahnsinnig freuen über den Opa. Daneben stehen die Eltern, mit etwas sorgenvolleren Gesichtern, Hedwig glücklich, dass ihr Vater einen schönen Tag hat, aber mit den dunklen Augenringen, die auf schlaflose Nächte deuten. Zu dieser Zeit gab es noch Freiräume in Kirche und Synagoge, wo Peter, der begabte junge jüdische Organist, Konzerte geben konnte.
Mit den Jahren verschwand aber die Hoffnung. Immer mehr jüdische Geschäfte mussten aufgegeben werden, und man erkannte, dass auf die Reichsfluchtsteuer noch weitere Repressalien folgen würden. Nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze im November 1936 setzte sich die große Fluchtwelle im Gang, die Hedwig am Ende allein und ohne Verwandte in Ulm zurücklassen würde. Robert und Ernst Ullmann wurden gezwungen ihre Firma aufzugeben und flüchteten in die Niederlande (sie wurden dort später von den Nazis eingeholt und nach Auschwitz verschleppt). Die Ecksteins im Hafenbad schickten ihre Söhne zu der Schwester nach England und folgten wenig später selbst. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 flüchteten die anderen Cousins und Cousinen. Schwester Marie und ihre Familie warteten nur noch auf das Einreisevisum für die USA.
Sigmar war an Nieren-Krebs erkrankt. Die Arztpraxis hatte wegen der Rassengesetze und dem am 30. September 1938 erfolgten Approbationsentzug geschlossen werden müssen. Die Familie lebte von Ersparnissen. Es war unwahrscheinlich, dass eines der Fluchtländer dem kranken Sigmar ein Einreisevisum gewähren würde. Peter war schon zu alt um mit einem Kindertransport fliehen zu können. Im letzten Augenblick rettete ihn zur großen Erleichterung seiner Eltern ein Quäker-Ehepaar nach England. Später schrieb er über den Augenblick der Trennung von seiner Mutter, „da schaute sie mir mit starren Augen nach, ich, der ich so grausam von ihr wegfuhr“. Kurz danach wurden Hedwig und Sigmar aus der Wohnung in der Zinglerstraße herausgeworfen und mussten in das „Judenhaus“ in der Beyerstraße 54 einziehen. Sie hatten fast alles verloren, weg war auch das Klavier, weg waren die schönen Musikabende…
Bald wurde auch Hedwigs fast 90jähriger Vater Nathan aus seiner Wohnung vertrieben, und musste dann ebenfalls in der Wohnung in der Beyerstraße unterbracht werden. Hedwig hat alle Hände voll damit zu tun, den schwerkranken Ehemann und den alten Vater zu versorgen. Jetzt zeigte sich eine in ihr lebende Kraft, die jede Resignation ausschloss. Von einzelnen Ulmern, die noch mit ihr sprachen wurde ihr Mut bewundert. Immer wieder wusste sie Medikamente und Pflegemittel zu beschaffen, als bereits jeder Jude Angst vor dem Betreten eines „arischen“ Geschäfts hatte. Trotz besonders harter Lebensmittelrationierung für Juden sorgte sie für ausreichendes Essen. Als der Vater krank wurde, gelang es ihr sogar noch, für ihn einen Platz im städtischen Krankenhaus zu bekommen. Dort starb er im Februar 1941.
Der Zustand von Sigmar verschlechterte sich zusehends, immer weniger gelang es Hedwig Ury, Medikamente oder ärztliche Hilfe zu bekommen. Sigmar Ury, dem Arzt, der in langer Berufstätigkeit unzähligen Patienten medizinischen Beistand geleistete hatte, der als Sanitätsoffizier während des 1. Weltkriegs im Felde gestanden hatte, wurde ein Platz in dem Krankenhaus verweigert, in dem er seine Berufslaufbahn begonnen hatte. Er starb am 10. Mai, 1941.
Hedwig war jetzt allein. Sie war mittellos. Schon lange vor seinem Tod hatte Sigmar die Judenvermögensabgabe nicht mehr bezahlen können. Ein wenig Geld konnte Hedwig durch Erteilen von Englischunterricht an solche verdienen, die noch auf eine Einreise in die USA hofften. Ab September 1941 musste sie den Judenstern tragen.
Im letzten Brief (vom Januar 1942), den ihr Sohn in Kanada von ihr bekam, schrieb sie über ihre Freude, dass Peter erste Erfolge als Musiker hatte und bemerkte, dass auch eine letzte Freundin ihren „Wohnsitz leider geändert hat“. „Mir geht es gut“, schrieb sie beschwichtigend, „ich arbeite im Altersheim Herrlingen in der Küche, fahre täglich hin und her und hoffe, mit der Zeit auch dort meinen Mann stellen zu können.“ Zwei Monaten später ist Hedwig zum jüdischen Altenheim in Dellmensingen gezogen, um die dort gebliebenen Alten zu pflegen.
Im August 1942 wurde Ulm endgültig judenfrei gemacht. Hedwig Ury wurde am 17. 8. 1942 mit den alten, zum Teil dementen Menschen aus Delmensingen auf den Killesberg nach Stuttgart gebracht und am 22. 8. 1942 nach Theresienstadt deportiert. Die Schreckensszenen der Abreise gaben eine dunkle Vorahnung von dem, was bevorstand, obwohl weiter behauptet wurde, dass es sich um eine „Umsiedlung“ handle. Auf der Fahrt nach Theresienstadt starben bereits mehrere der von ihr betreuten Menschen. Angekommen, sorgte ein zweistündiger Fußmarsch für weitere Tote. Nach Ankunft in Theresienstadt Abnahme aller Wertsachen, Körpervisitation.
Wir wissen wenig über die zwei Jahre, die Hedwig Ury in Theresienstadt verbrachte. Sie wurde wahrscheinlich bald im Krankenschwesternzimmer der Dresdner Kaserne einquartiert, dort standen sieben vierstöckigen Betten für die Schwestern. Dort war auch Resi Weglein. Zusammen waren sie Zeugen des unaufhörlichen Sterbens, der Typhus-Epidemien und der regelmäßig wiederkehrenden „Osttransporte“ nach Auschwitz und Treblinka. Wo hat sie die Kraft gefunden, diese Zeit durchzustehen, immer nur an ihre Pflicht zu denken, wie sie den Kranken und Sterbenden helfen konnte? Hat sie immer gehofft, dass sie doch das Ende des Grauens erleben und ihren geliebten Sohn wiedersehen würde?
Im Sommer 1944 wurden die berüchtigten Propagandafilme in Theresienstadt gedreht und internationalen Delegationen das angeblich vorzügliche Leben der Juden dort vorgezeigt. Dafür war natürlich eine vorübergehende Verbesserung der Bedingungen nötig. In unmittelbarem Anschluss daran jedoch begann im Herbst eine Reihe neuer Deportationen nach Auschwitz, jede mit ca. 1500 Personen, angeblich zum Arbeitseinsatz. In den 9. Transport wurde Hedwig Ury eingereiht. Resi Weglein konnte sie noch bis zur „Schleuse“ begleiten, wo die SS-Männer die Verschickung dirigierten. Am 20. Oktober erreichte der Zug die Rampe in Auschwitz, Hedwig Ury wurde aller Wahrscheinlichkeit nach für den sofortigen Tod selektiert. Sie war eine der letzten, die in Ausschwitz starben. Schon im November versuchte die SS durch Sprengungen die Spuren der Anlage zu beseitigen.
Im Sommer 1945 kehrte Peter Ury, jetzt Dolmetscher für die amerikanische Armee, zurück nach Ulm . Er suchte seine Mutter. Überall traf er auf betretene Mienen, bis eine, Resi Weglein, die es wusste, ihm tränenreich sagte: „Es sei nicht viel Hoffnung…“. Er war fassungslos, seine Gedanken schossen hin und her durch seinem Kopf: „Sie haben sie vergast! Vergast hat man meine Mutter, ja ich hab’s gelesen, tausendmal, wieviel Millionen Juden sind umgebracht worden, mein Gott, mein Gott, meine Mutter haben sie vergast.“