Als Jakob Eckstein am 17. März 1945 frühmorgens vor das Erschießungskommando auf den Schießständen im Lehrertal in Ulm geführt wurde, erkundigte er sich noch nach seinem jüngeren Bruder Josef, der zu diesem Zeitpunkt als Soldat an der Front stand. Dann äußerte er gegenüber dem anwesenden Militärpfarrer seine letzte Bitte: Man möge ihm die Augen nicht verbinden. Er wolle „seinen Mördern in die Augen sehen“. Um 7.41 Uhr wurde Jakob Eckstein wegen Fahnenflucht standrechtlich erschossen.
Jakob Eckstein kam am 25. August 1920 als siebtes von acht Kindern im schwäbischen Neresheim zur Welt. Die Mutter Amalie, geb. Kopp, und ihr zweiter Ehemann Johann Anton Eckstein wohnten in einem inzwischen abgerissenen Haus an der Neresheimer Hauptstraße zwischen dem Gasthaus Stern und der Buchdruckerei Ledl. Nach dem Tod des Vaters Ende des Jahres 1932 zog die Familie in ein heute ebenfalls nicht mehr existentes Haus „in der Höll“ (heute: Höllstraße).
Karl Ziegelmüller, der ein Jahr älter als Jakob Eckstein ist, erinnert sich gut an die Familie Eckstein, da er in direkter Nachbarschaft wohnte. Die Mutter arbeitete bei der Firma Hartmann bei Heidenheim, die jüngste Tochter hütete Gänse und die beiden jüngsten Söhne Jakob und Karl verdienten ihr Geld als landwirtschaftliche Helfer. Die Wochen vor seiner Einberufung verdingte sich Jakob Eckstein auf dem Hof des Vaters von Paul Scherer. Den kleinen Jungen habe Jakob einmal ohne fremde Hilfe unter einem umgestürzten Stein hervorgezogen, erinnert sich sein Bruder.
Josef Eckstein und Ziegelmüller beschreiben Jakob als hilfsbereiten Jungen, der „keinem was zuleide tun konnte“. Er sei ein „auf geweckter, sportlicher und erfinderischer“ Naturbursche gewesen, der von den Gleichaltrigen aufgrund seines Einfallsreichtums geschätzt worden sei. Er hätte einen „guten schwäbischen Erfinder gegeben“, berichtet Ziegelmüller. Jakob habe sich viel in der freien Natur aufgehalten, zur Schule sei er weniger gern gegangen. Ziegelmüller erinnert sich daran, dass dessen damaliger Lehrer, der Oberlehrer Rudolf Schmid der Volksschule Neresheim ihn zweimal von Mitschülern zum Unterricht habe holen lassen.
Josef Eckstein, geboren am 21. Januar 1927, lebt heute in Berlin. Er weiß noch gut, dass seine Familie, von der niemand der NSDAP oder einer Parteiorganisation beigetreten war, deshalb zum Teil von anderen Dorfbewohnern angefeindet wurde: „Die einzigen, die nicht drin waren, waren wir. Keiner aus unserer Familie war Nazi. Das war ja der Hass auf uns“. Dies hätten die Kinder auch in der Schule zu spüren bekommen.
Josef Eckstein erinnert sich an Jakob als einen liebevollen Bruder, der viel Zeit mit ihm verbracht habe. Sie seien „immer beieinander gewesen“. Die Ecksteins waren katholisch und lebten einige Jahre in Gesellschaft der Benediktinermönche um Pater Emeran auf dem Gelände des Klosters Neresheim. Mit dem Tod seines Bruders habe Josef Eckstein seinen Glauben jedoch verloren.
Kurz vor Weihnachten 1941 wurde Jakob Eckstein zur Wehrmacht einberufen und im thüringischen Altenburg bei einer ArtillerieErsatzeinheit stationiert. Jakob sei nur ungern Soldat geworden, berichten sein Bruder und Karl Ziegelmüller. „Er wollte sich nicht befehligen lassen“, sagt Ziegelmüller. Am Standort in Altenburg lernte Eckstein die gleichaltrige Erna Kretschmar kennen
Ab Mai 1942 befand er sich mit dem Artillerie-Regiment 24 an der Ostfront und wurde nach Aussage seines Bruders mit der Wintermedaille und dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet. Im Juli 1943 wurde Jakob Eckstein bei Stalingrad durch einen Kopfschuss schwer verwundet und blieb mehr als 48 Stunden verschüttet. In der Folge sei er von wiederkehrenden epileptischen Anfällen geplagt worden. Um sich von seinen schweren Verwundungen zu erholen, wurde Eckstein im September 1943 zur Genesendenbatterie seiner Abteilung versetzt. Nach der letzten Meldung dieser Abteilung wurde er am 31. Januar 1944 zur Heeresentlassungsstelle 1/V in Stuttgart überstellt. Vermutlich sollte dort die Entlassung des überprüft werden. Ob es zu dieser Untersuchung kam ist unklar. Fest steht, dass sich Jakob Eckstein nicht bei seiner Einheit zurück meldete. Er versteckte sich bei seiner Freundin Erna in Altenburg, deren Vater seinem zukünftigen Schwiegersohn vermutlich unter anderem Namen eine Arbeit im Stollenbau besorgte. Erna erwartete von Jakob Eckstein ein Kind. Die beiden wollten in Altenburg heiraten. Dies sollte dem Untergetauchten zum Verhängnis werden, denn seine Verlobte plante, die Hochzeit bekannt zu geben. Der Schwiegervater habe seiner Tochter zwar noch abgeraten. Diese wähnte ihren Verlobten jedoch in Sicherheit und zeigte ohne dessen Wissen die bevor stehende Vermählung an. Daraufhin wurde das Aufgebot am Marktplatz von Altenburg bekannt gegeben. Noch vor der Eheschließung verhaftete die Feldgendarmerie Eckstein und brachte ihn ins Militärgefängnis nach Ulm.
Vom Kriegsgericht der Ulmer Zweigstelle der Division Nr. 465 wurde Jakob Eckstein wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Seine Mutter durfte ihren Sohn im Militärgefängnis in Ulm noch einmal besuchen. Nach ihren Angaben sei er in der Haft gefoltert worden und habe danach „nicht mehr wie 25, sondern wie 45“ ausgesehen.
Am 18. Februar 1945 kam Jakob Ecksteins Tochter Ursula zur Welt, die er aber nicht mehr kennen lernen konnte.
Am 17. März 1945 wurde Jakob Eckstein zusammen mit dem ebenfalls zum Tode verurteilten Kurt Henne im Ulmer Lehrer Tal erschossen. Anschließend wurden die Toten in eine Zeltplane gewickelt und zum Ulmer Friedhof gefahren. Ein Friedhofsangestellter soll Josef Eckstein später gegenüber erwähnt haben, dass an diesem Tage sieben Männer hingerichtet worden seien. Im Begräbnisbuch des Ulmer Friedhofs ist jedoch lediglich die Bestattung von Jakob Eckstein und Kurt Henne am 23. März 1945 in der Abteilung 74 verzeichnet. Im Friedhofsbuch steht unter „Bemerkungen“: „Standrechtlich erschossen wegen Fahnenflucht.“ Jakob Eckstein wurde 24 Jahre alt.
Die Mutter erfuhr von der Hinrichtung des Sohnes durch eine kurze Nachricht, in der ihr zugleich untersagt wurde, für den Verstorbenen die Messe lesen zu lassen oder eine Trauerfeier abzuhalten. Die amtliche Sterbeurkunde mit der Nummer 241/1946 erhielt die Familie nach Angabe von Josef Eckstein erst am 5. März 1948 vom Standesamt Ulm. Die Verlobte des Hingerichteten reiste nach der Geburt ihrer Tochter nach Neresheim, wo sie zwei Jahre bei Jakob Ecksteins Mutter lebte.
Nachdem Josef Eckstein im August aus der Gefangenschaft heimgekehrt war, suchte er mit zwei Freunden den katholischen Standortpfarrer Max Notz in Ulm auf, der ihm von der Erschießung seines Bruders berichtete. Auf dem Ulmer Friedhof zeigte man ihm das Grab des Bruders. Zuhause in Neresheim habe die Mutter verlangt, dass Jakobs Tochter nicht unehelich aufwachse. Josef Eckstein heiratete Erna und adoptierte die Tochter seines Bruders. Die Ehe hielt nicht lange. Ursula Neumann, die ehemalige Verlobte des Hingerichteten, lebt heute in Halle. Josef Eckstein, der im Krieg ebenfalls schwer verwundet wurde, lebt heute in Berlin. Seine Heimatstadt Neresheim besucht er nur noch selten. Für ihn bleibt unverständlich: Auf dem Denkmal für die im Krieg gefallenen Neresheimer sind weder der Name seines Bruders Jakob noch der Name seines Halbbruders verzeichnet. „Die waren doch da!“, sagt er. Während Karl Ziegelmüller angibt, dass in Neresheim „so gut wie keiner“ von Ecksteins Schicksal wisse, widerspricht Josef Eckstein: „Die wissen schon!“ Auch Paul Scherer erinnert sich, dass ihm sein Vater erzählt habe, dass sie Jakob hingerichtet hätten, weil er damals „abgehauen“ sei. Vielleicht erinnern sich noch andere Neresheimer.
Aus dem Buch „Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“. Ein Gedenkbuch für die Opfer der NS-Militärjustiz in Ulm“ von Oliver Thron mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg in Ulm.