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Karl Rueff

Stolperstein Frauenstraße 28 (GPS 48.399455, 9.996718)

 

Auch Soldaten des Ersten Weltkrieges, die ihren „Einsatz für das Vaterland“ mit bleibenden geistigen Schäden bezahlen mussten, wurden durch die nationalsozialistische Regierung als „lebensunwertes Leben“ bezeichnet, das es zu vernichten galt. So erging es dem Ulmer Kaufmannssohn Karl Rueff, Jahrgang 1892, dessen Teilnahme an den Kämpfen zwischen 1914 und 1918 mehrfach in der Regimentgeschichte erwähnt wird. Er wurde 1940 in Grafeneck mit weiteren Patienten der Heilanstalt Schussenried durch Gas ermordet.[1]

Der Elchinger Hof am Anfang des letzten Jahrhunderts

Der Elchinger Hof am Anfang des letzten Jahrhunderts

Karl Hermann Rueff wurde am 1. Februar 1892 in Winterthur in der Schweiz geboren. Die Familie Rueff war allerdings schon seit 1856 in Ulm beheimatet.[2] Großvater Karl Rueff hatte die Tochter des Landesproduktenhändlers Thomas Kölle geheiratet. Thomas Kölle besaß den ehemaligen Elchinger Hof in der Frauenstraße, damals Ulms wichtigste Einkaufsstraße, wo er ein großes Geschäft hatte. Dieses Haus Nr. 28 (gegenüber vom früheren Kaisheimer Hof an der Ecke Kornhausgasse) wurde Lebensmittelpunkt für die Rueffs. Mit der Zeit übernahm Großvater Karl Rueff die Leitung des Geschäfts (das weiter unter dem Namen Thomas Kölle firmierte) und gründete mit seiner Frau Theresa Bertha eine große Familie.

Als der Großvater im frühen Alter starb, mussten die Söhne August und Karl Julius die Firmenleitung übernehmen. Karl Julius war noch jung, hatte aber eine Begabung für das Knüpfen von internationalen Geschäftsbeziehungen und konnte das Geschäft zu einer großen Trockenobsthandelsfirma ausbauen. Eins seiner Hauptbezugsländer war Serbien und er wurde später Königlicher Serbischer Konsul in Ulm. Zu dieser Zeit entstand wohl auch seine Verbindung in die Schweiz. 1891 heiratete er die Pfarrerstochter Berta C. aus Ulm.[3] Sie lebten zu dieser Zeit in Winterthur und kehrten erst 1897 zurück nach Ulm.

Karl Hermann war das erste Kind von Karl Julius und Berta Rueff und der einzige Sohn. Es folgten die drei Schwestern Berta, Lili und Marie. Es waren begabte Kinder. Im Juni 1898 wurde Karl in die Elementarschule des Realgymnasiums aufgenommen.[4] Zwölf Jahre später bestand er 1910 sein Abitur an dem Realgymnasium in der Olgastraße.[5] Für die Schwestern lag die Höhere Mädchenschule noch näher, zwei Häuser weiter in der Sammlungsgasse. 1903 kam Berta in die erste Klasse, 1904 folgte Lili, 1907 die Jüngste, Marie.

Karl Rueff mit seinem Vater Konsul Rueff

Karl Rueff mit seinem Vater Konsul Rueff

Es wurde von dem einzigen Sohn Karl wahrscheinlich erwartet, dass er in das Geschäft einsteige. Jedenfalls gab er 1914 in seinen Personalunterlagen für das Militär[6] sein Zivilverhältnis als „Kaufmann“ an. Einiges deutet darauf hin, dass sein Vater ihn in den Jahren nach dem Abitur ins Ausland schickte, um dort das Geschäft und  Fremdsprachen zu lernen. Es war für diese Familie zu dieser Zeit genauso wenig wie für alle anderen denkbar, dass bald ein großer Krieg ihre Zukunftspläne und  ihre ganze Welt zunichtemachen würde.

Am 2. August 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 4. August, meldete sich Karl Rueff als Kriegsfreiwilliger für die 9. Kompagnie des 9. Württembergischen Infanterie-Regiments Nr. 127. Das deutsche Ultimatum an Russland war schon abgelaufen und die Mobilmachung stand bevor. Man konnte die Familie Rueff wohl zu den kriegsbegeisterten mit persönlichen Verbindungen zur Truppe zählen. Auch Karls verstorbener Onkel Karl D. hatte den Rang eines Generalmajors gehabt.[7]

Am 9.August 1914 rückte Gefreiter Rueff mit allen anderen ab ins Feld, am 22. August war er schon an der Schlacht bei Longwy beteiligt. Es folgten die Schlachten von Maas und Varennes und, mit einer kurzen Lazarettunterbringung wegen Gelbsucht, der verlustreiche Stellungskrieg im Argonnerwald von September 1914 bis Ende 1915. Eine Schussverletzung bei Bunaville im Juli 1915 wurde im Feld behandelt.[8] Am 3. Januar 1916 wurde er zum Unteroffizier befördert und gleich danach zur Maschinengewehr-Kompanie des Regiments für die Stellungskämpfe vor Ypern versetzt.

Wandmedaille Karl Rueff 30.4.1916

Wandmedaille Karl Rueff 30.4.1916

In dieser Zeit zeigte es sich, dass Karls Vater Konsul Karl Julius Rueff eine wichtige Rolle beim Regiment Nr. 127 innehatte, und zwar als Gönner und Unterstützer aus der Heimat. Am 13. Mai 1916 trafen er und der Ulmer Stadtpfarrer Dietrich in Tenbrielen bei Ypern mit einem „Liebesgabentransport“ ein. Konsul Rueff besuchte die Truppe auch noch einmal im folgenden Jahr und zwar zu Weihnachten 1917, diesmal begleitet von Pfarrer Lieb aus Ulm.[9]

Ab September 1916 wurde Karl Rueff an der Ostfront eingesetzt. Nach Stellungskämpfen in Lettland der Infanterie-Regimente Nr. 129 und 409 wurde er im Februar 1917 zu einem Lehrkurs am Maschinengewehr abkommandiert. Am 23. Mai zum Vizefeldwebel befördert, musste er sein neues Können gleich an der Westfront bei Reims einsetzen, wo er wieder zu seinem alten Regiment Nr. 127 kam und am 2. August 1917 zum Leutnant d. Reserve befördert wurde.[10] Dabei spielten sicherlich die in der Regimentsgeschichte erwähnten erfolgreichen Patrouillenunternehmungen Karl Rueffs eine Rolle.

Karl Rueff in Uniform mit Familie

Karl Rueff in Uniform mit Familie

Es folgte die Abwehrschlacht bei Verdun und weitere Stellungskämpfe bei Reims, bis es 1918 zur großen deutschen Frühjahresoffensive  kam. Bei einer der letzten Etappen dieser verzweifelten Offensive war für Karl Rueff der Krieg plötzlich zu Ende. Wie die Regimentsgeschichte erzählt, wurde am 1. Juni morgens um 11 Uhr „bei schneidiger Erkundung“ feindlicher Maschinengewehr-Nester am Mont St. Pierre über Champigny (einem Tags zuvor eroberten Vorort von Reims) der „tapfere Leutnant d.R. Rueff“ schwer verwundet.[11]

Karl wurde zuerst zum Lazarett Poilcourt (nördlich von Reims) gebracht, wo ein Lungen-Bauchsteckschuss an der rechten Seite diagnostiziert wurde. Mit den begrenzten Mitteln von damals hing es einzig und allein von seiner körperlichen Konstitution ab, ob er sich von der Verletzung erholen würde. Zum Glück blieb die Wunde infektfrei und Ende Juni konnte er nach dem Abklingen des Fiebers mit dem Lazarettzug nach Magdeburg gebracht werden. Von dort machte er sich auf eigene Faust und ohne Papiere oder sonstigen offiziellen Anlass auf den Weg zum Festungshauptlazarett in Ulm – ein ungewöhnlicher Vorgang.[12]

In Ulm kam er am 10.Juli 1918 an und wurde gleich näher untersucht. Trotz Wundheilung bestanden immer noch starke Atmungsgeräusche und Kurzatmigkeit. Der Röntgenbefund zeigte ein Infanteriegeschoss unter dem linken Zwerchfell. In den folgenden Wochen normalisierten sich die Atmungsgeräusche und die Atemnot verschwand. Die Ärzte entschieden sich gegen eine Entfernung des Geschosses und erklärten ihn für beschwerdefrei.

Aber in der Seele von Karl Rueff war etwas Schwerwiegendes passiert, eine durch die Verwundung ausgelöste psychische Reaktion auf seine drei Jahre Kampferlebnisse. Dem Pflegepersonal fiel bald eine deutliche Änderung in seinem Verhalten auf, unter anderem Missachtung der Dienstregeln und Verachtung für alle, die nicht an der Front gekämpft hatten. Anfang August wurde er als Kriegsbeschädigter und vorläufig eingestuft als „a.v. (arbeitsverwendungsfähig) Heimat“ zur Ersatztruppe in Isny entlassen. Er aber hatte Heimaturlaub in Ulm erwartet. Für diese seiner Meinung nach ungerechte Behandlung machte er den Festungs- und Generaloberarzt verantwortlich. Am 8. August ging er zum Hotel Fetzer (der frühere Russische Hof am Bahnhof in Ulm), suchte den Generaloberarzt auf und schlug ihn ins Gesicht.

Dieser Vorfall führte unweigerlich zu einer Militärgerichtsverhandlung. Es ist wahrscheinlich Karl Rueffs Leistungen an der Front und der Intervention des in der Truppe hoch geachteten Konsuls Rueff zu verdanken, dass er zuerst in der Tübinger Universitätsnervenklinik landete und nicht im Militärgefängnis an der Frauenstraße.

Nach seiner Aufnahme am 10. August 1918 im Reservelazarett II Abteilung Universitätsnervenklinik Tübingen wurde sehr schnell klar, dass Karl unter einem schweren psychischen Zusammenbruch litt und hochgradig suizidgefährdet war. Nach seinen wiederholten Versuchen sich die Pulsadern aufzuschneiden wurde er auf die Wachabteilung gebracht. Häufig war er depressiv mit Weinkrämpfen. An anderen Tagen wurde er erregt gewalttätig und wurde mit Hyoscin sediert, einem Mittel, das allerdings selbst schwere psychische Nebenwirkungen hatte. Den Ärzten fiel ein Verhalten auf, das „oft an Schizophrenie mit hysterischer Färbung“ erinnerte. Sie bezeichneten es als eine „manisch gefärbte reaktive Psychose“.

Am 26. August schrieb der leitende Professor in Tübingen ein Gutachten an das Königliche Württembergische Gericht der stellvertretenden 54. Infanterie-Brigade in Ulm: „Es handelt sich um eine sogenannte reaktive Psychose, wie sie bei Soldaten, die sehr lange an der Front waren, insbesondere aber im Anschluss an schwere Verwundung ziemlich häufig beobachtet werden.“ Rueff befand sich zur Zeit der Tat „in einem Zustand… durch welchen die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ Hinzugefügt war, dass Lt. Rueff „in absehbarer Zeit der Anstaltspflege bedarf.“[13]

Das Gutachten erreichte, dass Karl ohne strafgerichtliche Verfolgung blieb. In seiner Personalakte steht: „Durch Verfügung der Königlichen Staatsregierung vom 13.6.19 der Abschied mit gesetzlicher Pension bewilligt (Entlassungstag: 30.6.19)“.[14] Möglicherweise zu dieser Zeit entstand auch die an Freunde und Verwandte vermittelte Version der Geschichte, dass Karls Verhalten das Resultat eines Kopfschusses gewesen sei.[15]

Im weiteren Verlauf des Spätsommers in Tübingen wechselte Karl zwischen Krankheitseinsicht mit dem Wunsch, sich zu entschuldigen und Erregungszuständen, möglicherweise mit Halluzinationen. Vom Standpunkt des heutigen Wissens würde man von einer Traumafolgestörung sprechen. Die offenkundigen dissoziativen Störungen wurden ausgelöst durch die schwere Verwundung, waren aber wahrscheinlich das Ergebnis der kumulierten Kriegserlebnisse. Die Symptome sprechen nicht für das Vorliegen einer „klassischen“ posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), dennoch können nach heutigem Kenntnisstand auch Psychosen durch traumatische Erlebnisse (wie Kriegserlebnisse) ausgelöst werden.

Im Ersten Weltkrieg waren die psychischen Auswirkungen des Kriegsgeschehens noch weitgehend unbeachtet. Rueff hatte Glück, dass er in Tübingen auf aufgeschlossene und interessierte Ärzte stieß. Am 14. November wurde er aber in die Heilanstalt Rottenmünster gebracht, wo ein anderer Wind wehte. Es dauerte nicht lang bis aus den abwechselnden depressiven und gewalttätigen Phasen eine Symptomatik der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung wuchs. Es fing an mit  Nahrungsverweigerung und entwickelte sich weiter mit dem Verlust an Achtung für die Körperhygiene. Das Pflegepersonal antwortete mit Schlauchnahrung und anderen entsprechenden Maßnahmen.

Wie es nicht anders zu erwarten war, erschien nach mehr als einem Jahr dieser „Behandlung“ in der Krankenakte im April 1919 die lapidare Feststellung: „Der Kranke zeigt das Bild der Dementia praecox… Eine Besserung seines Zustandes trat während seines hiesigen Aufenthalts nicht ein, so dass weitere Anstaltsbehandlung nötig ist.“[16] Die Verschlechterung des Krankheitsbildes blieb der Familie von Karl nicht verborgen. Konsul Karl Julius Rueff besuchte ihn regelmäßig, manchmal kam die Mutter oder eine Schwester. Karl aber war jetzt in einem Zustand, wo er das Gespräch mit seinen Eltern verweigerte.

Das Jahr 1919 war allerdings für die Familie auch aus ganz anderen Gründen ein Schicksalsjahr. Durch den Krieg waren die für die Firma so wichtigen internationalen Geschäftsbeziehungen verloren gegangen, gleichzeitig der Wiederaufbau durch die Inflation der Nachkriegsjahre sehr erschwert worden. Konsul Karl Julius stand kurz vor dem Ruin. Gleichzeitig wurde die ganze Familie in Trauer gestürzt, als Tochter Berta im September starb. Früher im Jahr hatte sie einen Sohn zur Welt gebracht, das erste Enkelkind von Karl Julius und Berta. Im selben Jahr bestand Karls jüngste Schwester Marie ihr Abitur und entschied sich für ein Medizinstudium. Sie wurde später Nervenärztin, eine Entscheidung, die wohl wenigstens teilweise auf der Erfahrung mit ihrem Bruder beruhte.

Im Laufe des folgenden Jahres entwickelte Karls Eltern einen Plan für die weitere Pflege ihres Sohnes. Sie glaubten, dass eine ruhige, liebevolle Umgebung zuhause doch eine Genesung herbeiführen könnte. Zu diesem Zweck engagierten sie einen eigenen Vollzeitpfleger und bauten ein Stockwerk des großen Hauses in der Frauenstraße für die Pflege von Karl um. Anfang 1921 wurde Karl in diese Neuigkeiten eingeweiht. Der Ton beim nächsten Besuch des Vaters war sofort ganz anders – Karl war gesprächig, erkundigte sich nach der Familie und ging auf alle Fragen ein. Am 10. März 1921 wurde er von seiner Schwester (wahrscheinlich Marie) nach Hause abgeholt.

Zu Hause musste die Familie sich an das zyklische Muster der Krankheit gewöhnen. Alle vier Wochen gab es eine 3 bis 4 Tage lange Phase von Depression, Nahrungsverweigerung und Schweigen, daran anschließend etwa acht Tage ein manischer Zustand mit Zerstörungssucht und gelegentlich Halluzinationen. Seine Schwester berichtete später: „Er würde schreckliche Bilder sehen, so wie sie im Krieg gewesen wären. Männer würden in Übermacht auf ihn einstürmen… Er hat überhaupt ganz noch im Kriege gelebt.“ In den guten Zeiten arbeitete er in einer Werkstatt um seine zwei Motorräder in Ordnung zu bringen.

Aber Karl, 1,82 Meter groß, war ein kräftig gebauter, robuster junger Mann und mit seinen Gewaltausbrüchen war nicht zu spaßen. Die Zeit war auch eine ungünstige, da er die politischen Umwälzungen durchaus mitbekam und sich rechtsfanatisch positionierte. Als er anfing, republikanisch gesinnte Freunde der Familie und sogar auch den Vater zu bedrohen, musste die Reißleine gezogen werden. Gegen Ende September wurde er (unter Vortäuschung eines ärztlichen Termins) zurück nach Tübingen gebracht.

Karl blieb jetzt anderthalb Jahre lang in der Universitätsklinik Tübingen. Der Befund „starke Dissoziation, durchaus manisches Bild“ unterschied sich im Wesentlichen nicht von dem früheren. Das Vertrauensverhältnis war aber durch die Finte, mit der er nach Tübingen gebracht wurde zerbrochen und anders als früher gab es keine Zeiten, in denen er Einsicht in seine Krankheit zeigte. Inhaltlich beschäftigten sich seine Gedanken weiter hauptsächlich mit dem Krieg und der Vorstellung, dass er wieder kämpfen würde, mal in Oberschlesien, mal in Marokko. Vor allem wartete er darauf, wieder nach Hause gehen zu können.

Im April 1923 wurde diesem Wunsch entsprochen und Karl kam wieder nach Ulm. Die Zimmer seines Stockwerkes waren jetzt so angeordnet, dass er eines für seine unruhigen Zeiten und ein anderes, schöneres für seine ordentlichen Zeiten hatte. Er blieb diesmal für über ein Jahr bei seinen Eltern. Es keimte wieder Hoffnung auf, dass er genesen würde. Sein Vater schrieb später: „Von Mitte Juli bis Anfang Oktober 1923 war er so gut daran, dass er allein ausging, häufig in der Donau badete, ja Dritte meinten sogar, Karl sei wieder ganz normal.“

Im Winter verbrachte er viel Zeit im Bett; die Familie fühlte sich nicht mehr bedroht. Sie hatten aber unterschätzt, inwieweit Karl von einer stabilen Umgebung und sicheren Vertrauensperson – dem Pfleger – abhängig war. Als der Pfleger jetzt endlich Urlaub nehmen durfte, dachten die Eltern, dass sie allein die Pflege für einige Tage übernehmen könnten. Das ging leider schief. Karl wurde zunehmend verwirrt und die fremden Stimmen und Gestalten kehrten zurück. Als sein Vater ihm das Essen brachte, ohrfeigte ihn Karl und warf das Essen aus dem Fenster. Später warf er auch das Mobiliar heraus und dann warf er seine Mutter zu Boden. Es blieb den Eltern nichts anders übrig, als ihn zurück in eine Heilanstalt zu bringen, diesmal nach Schussenried, wo er am 19. Juli 1924 aufgenommen wurde.

Karl Rueff blieb für den Rest seines Lebens in Schussenried. Über diese 16 Jahre lässt sich nicht viel berichten. Es war eine Zeit der fortschreitenden Institutionalisierung, sogar Depersonalisierung, wie es damals nicht anders zu erwarten war. Es war das, was seine Eltern immer verhindern wollten, aber sie hatten keine Mittel, womit sie den Gang der Dinge ändern konnten. Es gab damals nicht die Medikamente, mit denen psychisch Kranken heute ein wenigstens halbwegs normales Leben gegeben werden kann. Das hielt den alten Konsul Rueff aber nicht davon ab, seinen Sohn regelmäßig zu besuchen, 4 bis 5 Mal im Jahr. Er nahm ihn dann mit im Auto um eine naheliegende Stadt zu besuchen, spazieren zu gehen oder im Café zu sitzen, immer in Begleitung eines dafür bezahlten Pflegers.

Kathrin Landa: Porträt von Karl Rueff 60x50cm, Öl auf Leinwand, 2016.

Kathrin Landa: Porträt von Karl Rueff, 60x50cm, Öl auf Leinwand, 2016. Ausgestellt in der „Galerie der Aufrechten“ in Laupheim, Mannheim, Dresden und Berlin. Im Hintergrund des Bildes das Gebäude mit der Gaskammer in Grafeneck.

Nach der Wirtschaftskrise am Anfang der 1930er drohte dem Konsul Rueff wieder der Konkurs. Mit Bürgschaften konnte ihn jetzt seine Tochter Marie retten, die in den oberen Etagen des großen Hauses eine erfolgreiche Nervenheilklinik eingerichtet hatte. Im Jahr 1938 reichten nicht einmal die Bürgschaften aus und sämtliche Ausgaben mussten auf Sparflamme reduziert werden, auch die für Karls Pflege in Schussenried, die von Klasse 2 auf Klasse 3 reduziert wurde.

1940 entspannte sich die Lage, und mit einem Brief vom 12. Juni ordnete Karls Vater an, dass die Pflege wieder auf Klasse 2 heraufgesetzt werde. Aber von der für die NS-Krankenmorde verantwortlichen T4-Organisation des Reichsinnenministeriums, den entsprechenden Instanzen des Württembergischen Innenministeriums und der Leitung der Heilanstalt Schussenried waren schon andere Entscheidungen getroffen worden.

Am 17. Juni 1940 trug der beaufsichtigende Arzt in Rueffs Krankenakte einige Bemerkungen ein, die im Rückblick wohl im Sinne eines Todesurteils verstanden werden können: „Leer, dement … Zeigt keine Interessen. Endzustand.“ Am nächsten Tag folgt der letzte Eintrag: „Wird in eine andere Anstalt verlegt“. Am 18. Juni 1940 wurde Karl Rueff bei den anderen aus der Heilanstalt eingereiht, die mit dem Transport nach Grafeneck gebracht wurden.[17] Er wurde dort am selben Tag mit Gas ermordet.[18]

 

[1] Die folgende Geschichte wird zum größten Teil durch die angegebenen Quellen dokumentiert. Einige Einzelheiten stammen aus Auskünften der Nichte Karl Rueffs.

[2] Adressbücher Ulms

[3] Stadtarchiv Ulm, Familienregister Band 25, Blatt 140

[4] Stadtarchiv Ulm, Signatur B 230/00 Nr. 2/18

[5] Ulmer Bildchronik 1910

[6] Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Personalakte Karl Rueff, Signatur M 430/3, Bü9314

[7] Adressbuch Ulm 1914

[8] Bundesarchiv, Krankenakte Karl Rueff, Signatur R 179/ 27701

[9] U. Schwab und U. Schreyer, „Das neunte württembergische Infanterie-Regiment Nr. 127 im Weltkrieg 1914-1918“, Stuttgart, 1920

[10] Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Personalakte Karl Rueff, s. oben

[11] U. Schwab und U. Schreyer, s. oben.

[12] Bundesarchiv, Krankenakte Karl Rueff, s. oben

[13] Bundesarchiv, Krankenakte Karl Rueff, s. oben

[14] Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Personalakte Karl Rueff, s. oben

[15] In einem Brief an seine Cousine schrieb Werner U.: „Unser Onkel Karl Rueff erhielt im Weltkrieg durch Kopfschuss eine Hirnverletzung. Alle ärztlichen Bemühungen brachten keine Besserungen, er kam in eine Heil- und Pflegeanstalt.“ Diese Version findet man auch in der Literatur zum nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen: Robert Poitrot, „Die Ermordeten waren schuldig?“, Baden-Baden, 1947; Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, Frankfurt a. M., 1983; Walter Wuttke, „O, diese Menschen“, Blaubeuren, 2005.

[16] Einzelheiten zu der weiteren Entwicklung der Krankheit in Rottenmünster, Tübingen, Ulm  und Schussenried stammen aus der Krankenakte (s.o.). Der Autor und die Familie sind dem Deutschen Bundesarchiv für die Freigabe der Akte zu besonderem Dank verpflichtet.

[17] Staatsarchiv Sigmaringen, Verlegungsliste 18. Juni 1940, Signatur Wü 42 T 94 Nr. 444, S. 360

[18] Der Familie war es sofort klar, dass Karl umgebracht worden war. Es war aber zwecks Verschleierung üblich bei der T4-Aktion die Verwandten über Ort und Zeit des Sterbens zu täuschen. Standesamtlich wurde als Todesort von Rueff Hartheim bei Linz angegeben und als Todestag der 9. Juli 1940 (Stadtarchiv Ulm, Familienregister, s.o.). Hartheim war eine weitere Tötungsanstalt der NS-Regierung. Nur viel später hat die Familie den wahren Ort und Zeitpunkt des Mordes erfahren. Auf dem Grabstein am Familiengrab im Ulmer Neuen Friedhof, wo die Urne mit der Asche beigesetzt wurde, steht als Todestag der 9. Juli.

 

Autor: Mark Tritsch

 

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