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Karl Westerich

Stolperstein Frauenstraße 134, ehemaliges Garnisons-Arresthaus (GPS 48.40687, 9.992808)

 

Im April 1944 erhielt der Obergefreite Karl Westerich Nachricht aus seiner Heimatstadt Düsseldorf. Die Wohnung seiner Mutter war durch Luftangriffe beschädigt worden und seine junge Frau, die gerade ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte, lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus. Karl Westerich bekam Sonderurlaub und fuhr zu seiner Familie. Während des Aufenthalts in Düsseldorf beschloss der Familienvater, nicht mehr an die Front zurückzukehren.

Karl Westerich wurde am 18. Oktober 1914 in Düsseldorf geboren. Der Vater Franz Wilhelm Westerich, Verwalter auf einem landwirtschaftlichen Gut, kehrte aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück. Die Mutter Christina Katherina Westerich, geb. Gran, sorgte von da an allein für die Familie, die in Düsseldorf im Stadtteil Rath lebte. Karl Westerich erlernte den Beruf des Druckers und arbeitete in verschiedenen Fabriken, bevor er im Oktober 1936 zur Wehrmacht eingezogen wurde.

Karl Westerich

Karl Westerich

Karl Westerich leistete seinen Wehrdienst bei einem Infanterie­-Regiment in Brandenburg an der Havel ab. Dort geriet er zum ersten Mal in Konflikt mit Vorgesetzten. Vom Kriegsgericht der 13. Division wurde er im Mai 1938 wegen „Volltrunkenheit und Beleidigung eines Offiziers“ zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Kurz vor Weihnachten 1938 wurde er nach der Erfüllung der Wehrpflicht aus der Wehrmacht entlassen, nach Kriegsbeginn aber im Januar 1940 erneut eingezogen und war mit dem Infanterie­Regiment 464 in Frankreich stationiert. Am 17. August 1940 heiratete er während eines Heimaturlaubs in Düsseldorf seine Freundin Alma Margot Abedyhl. Zurück aus Frankreich war er in Herford stationiert, wo er zu Jahresbeginn 1941 wegen eines Schenkelbruchs und einer Bronchitis ausgemustert wurde und eine „Unabkömmlichkeit­stellung“ bei der Reichsbahn als Lokmotivheizer erhielt. Am 12. Februar 1941 kam sein Sohn Wolfgang zur Welt.

Karl Westerich wurde jedoch ein drittes Mal eingezogen und im August 1943 an der Ostfront in der Gegend von Charkow eingesetzt. Dabei erlitt er am 18. 10. 1943 eine Verwundung durch Granatsplitter. Er wurde der Genesenden­kompanie des Grenadier-Ersatz-­Bataillons 195 aus Konstanz zugewiesen. Mitte März 1944 wurde Karl Westerich zur 2. Marsch­kompanie des Bataillons kommandiert. Er galt nun wieder als „kriegsverwendungsfähig“ und stand vor einer erneuten Abstellung an die Ostfront. Da bekam er die Nachricht von der bedrohlichen Situation seiner Mutter und seiner Frau in Düsseldorf.

Noch während des Besuchs bei seiner Familie fasste er den Entschluss, nicht mehr an die Front zu gehen. Am Tag vor der Rückkehr zu seiner Einheit injizierte er sich eine geringe Menge Petroleum in den rechten Unterschenkel, um eine Entzündung des Beins hervorzurufen. Zuerst schien sein Vorhaben erfolgreich. Durch die Injektion bildete sich ein Geschwür, das operativ entfernt werden musste. Der Truppenarzt stellte Karl Westerich von der wenige Tage später bevorstehenden Abberufung zur Front zurück.

Nun wurde der Krankgeschriebene leichtsinnig. Laut Anklageschrift des Ulmer Kriegsgerichts soll er „in drei Fällen“ anderen Soldaten gegen Bezahlung angeboten haben, diesen auch Petroleum zu injizieren, um sie wie sich selbst vor der Front zu bewahren. Einer der Soldaten erstattete daraufhin Meldung, woraufhin die Ermittlungen gegen Karl Westerich aufgenommen wurden. Ende Juli 1944 wurde er festgenommen und in der Wehrmachthaftanstalt Konstanz inhaftiert. Wenige Tage nach seiner Einlieferung versuchte Karl Westerich, der überzeugt war, zum Tode verurteilt zu werden, am 29. Juli 1944 seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Gemeinsam mit drei weiteren Gefangenen überwältigte er einen Wachmann und entriss ihm die Dienstwaffe. Vor dem Kriegsgericht gab er später an, er habe sich mit der Waffe das Leben nehmen wollen, um seiner Verurteilung zum Tode zuvorzukommen. Der Versuch scheiterte; Karl Westerich wurde in das Militärarresthaus nach Ulm verlegt.

Am 30. Oktober 1944 wurde er von der Ulmer Zweigstelle des Gerichts der Division Nr. 465 wegen „Zersetzung der Wehrkraft u. a. zum Tode, zur Wehrunwürdigkeit und dem dauern den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte“ verurteilt. Am 14. Dezember 1944 wurde Karl Westerich im Alter von 30 Jahren im Ulmer Lehrer Tal erschossen und vier Tage später auf dem Ulmer Friedhof neben Jakob Eckstein, Kurt Henne und Richard Stemmle beerdigt. Ein Friedhofsbeamter notierte unter Bemerkungen: „Standrechtlich erschossen. Selbstverstümmelung.“

Karl Westerich hinterließ seine Frau und zwei Söhne. Sein jüngerer Sohn Karl, der den Namen seines Vaters trägt, lebt heute in Traben­Trarbach.

Aus dem Buch „Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“. Ein Gedenkbuch für die Opfer der NS-Militärjustiz in Ulm“ von Oliver Thron mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg in Ulm.