Otto Christ wurde ein Opfer der staatlich organisierten „Euthanasie“-Maßnahmen an behinderten Kindern. Diese Tötungsaktionen liefen weitgehend im Geheimen ab. Gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie wurden Menschen, die sich nicht durch eigene Arbeit selbst durch das Leben bringen konnten, als „lebensunwert“ bezeichnet. Ihre Fortpflanzung sollte verhindert werden und die „Volksgemeinschaft“ sollte sich frühzeitig von solchen „Ballastexistenzen“ trennen. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurden Untersuchungen zu diesen Verbrechen von den Allierten angestoßen und dann von deutschen Gerichten durchgeführt. Doch viele Dokumente waren durch das Kriegsgeschehen oder absichtlich vor Kriegsende vernichtet worden und trotz der beginnenden Entnazifizierung gab es bei Polizei, Justiz und in den Gesundheitsbehörden noch viele Personen, die eine Aufarbeitung und Sühne des Geschehens verhindern wollten. Wie bei vielen anderen „Euthanasie“- Opfern sind deshalb auch nur wenige Fakten aus dem Leben von Otto Christ erhalten geblieben. Um sich seiner Biografie anzunähern, müssen diese wenigen Quellen kritisch interpretiert und mit allgemeinen Erkenntnissen der Historiker über den Umgang der Nazis mit behinderten Kindern verknüpft werden.
Otto Christ wurde am 29.7.1934 in Ulm geboren. Seine Eltern waren Karl und Maria Christ. Er hatte einen älteren Bruder. Otto wurde auf Grund einer Behinderung in keine Schule aufgenommen, auch nicht in die Hilfsschule. Fast bis zu seinem 10. Geburtstag betreute ihn seine Mutter zu Hause. Anfang 1944 brachte sie Otto jedoch zu einer Untersuchung in die sogenannte „Kinderfachabteilung“ der Heilanstalt Kaufbeuren.
Kinderfachabteilungen waren mit geheimen Erlassen (nicht veröffentlichten Gesetzen) der Reichsregierung seit 1940 geschaffen worden, um behinderte Kinder einer so genannten „Behandlung“ zu unterziehen. Auch waren seit August 1939 behinderte Kinder unter drei Jahren von den Ärzten an die Gesundheitsämter zu melden, Neugeborene mit körperlichen Auffälligkeiten gleich nach der Geburt. Diese Meldungen wurden – z.T. über die Innenministerien der Landesregierungen – an den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin weitergeleitet, der dem Reichsminister des Inneren unterstand. Aus verschiedenen Dokumenten und auch aus Aussagen in den Nachkriegsprozessen geht hervor, dass dem Spitzenpersonal in den Innenministerien der Länder und der staatlichen Gesundheitsämter von vornherein klar war, dass „Behandlung“ Tötung bedeuten würde.
Im Schreiben von Staatssekretär Conti, dem Stellvertreter des Reichsministers des Innern, vom 20. September 1941 an die Gesundheitsämter wurde ein nur „spärliches Eingehen“ von Meldungen an den „Reichsausschuss“ beklagt, dazu auf Gründe für eine geforderte Anstaltsbehandlung für Kinder in häuslicher Pflege verwiesen und mit Nachdruck dazu aufgefordert „die Bestrebungen des Reichsausschusses in jeder Weise zu unterstützen, insbesondere auf die Sorgeberechtigten im Sinne obiger Ausführungen gegebenenfalls auch mit Hilfe des Hausarztes einzuwirken. (…) Den Eltern muss gesagt werden (…), dass bei Verweigerung der Anstaltsunterbringung gegebenenfalls für sie oder für das Kind später wirtschaftliche Belastungen eintreten können, so dass unter Umständen geprüft werden müsse, ob nicht in der Zurückweisung des Angebots eine Überschreitung des Sorgerechts zu erblicken ist.“
Es ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen, ob Familie Christ schon vor 1944 durch den Hausarzt Dr. Ziegler oder durch das Staatliche Gesundheitsamt Ulm auf die Möglichkeit einer stationären Beobachtung und Behandlung hingewiesen wurde und warum das Kind erst 1944 in die Klinik gebracht wurde. Es gab auch in Ulm seit 1940 Gerüchte um die Gefährdung von behinderten Menschen, seit Behinderte aus Heil- und Pflegeanstalten in zentrale Anstalten wie Grafeneck „verlegt“ und dort getötet wurden. Und auch nach dem offiziellen Abbruch dieses anfangs geheimen Tötungsprogramms mit dem Decknamen T4 im Jahre 1941 bestand in weiten Teilen der Bevölkerung Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden, wenn es um die Behandlung und Pflege von behinderten Menschen ging. Ob bewusst oder unbewusst – auf jeden Fall hatten Otto Christs Eltern den Jungen bis 1944 durch die häusliche Betreuung einer möglichen staatlichen Einmischung entziehen können.
Aus den Patientenstatistiken der im Dezember 1941 errichteten Kinderfachabteilung in Kaufbeuren kann man ersehen, dass sich dort im Jahr 1942 insgesamt 161 Kinder im Alter bis zu 16 Jahren befanden. Alle Kinder waren über den „Reichsausschuss“ direkt Zugewiesene aus Schwaben, Württemberg, Baden und Voralberg. Es wurden also nicht nur die im Erlass von August 1939 anvisierten Kleinkinder in eine solche Kinderfachabteilung gebracht, sondern auch ältere Kinder. Im Laufe des Jahres 1944, dem Jahr, als Otto Christ mit seinen fast 10 Lebensjahren eingeliefert wurde, befanden sich in der Kaufbeurer Kinderfachabteilung insgesamt 23 Kinder unter 6 Jahren aber 111 Kinder zwischen 6 und 16 Jahren. (1942 starben in dieser Abteilung 35 Kinder und 1944 79 Kinder – die Mehrheit von ihnen wurde nach Meinung der Ermittlungsbehörden „euthanasiert.“)
Es gibt keine Aufzeichnungen über das Leben von Otto Christ aus der Zeit vor der Kontaktaufnahme der Eltern mit der Anstalt. Für die Zeit danach ist in der Verwaltungsakte für ihn im Historischen Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren noch der Briefwechsel zwischen seiner Mutter und dem damaligen Leiter der Anstalt und Direktor der Kinderfachabteilung Valentin Faltlhauser erhalten.
Am 28.1.1944 schrieb Maria Christ an den Anstaltsleiter:
„Ich war mit meinem Kind, 10 Jahre alt, jedoch geistig etwas schwach, auf dem Staatlichen Gesundheitsamt. Dort machte man mir den Vorschlag, ich solle mein Kind bei Ihnen untersuchen lassen und möchte nun anfragen, wann ich zur Untersuchung kommen könnte….“
Faltlhauser stimmte zu und am 6.3.1944, „zu Beginn des neuen Lebensmittelabschnitts“, wie es Frau Christ ausdrückte, wurde Otto nach Kaufbeuren gebracht. Im Aufnahmebogen ist als Diagnose eine damalige Bezeichnung für das Down-Syndrom vermerkt. Angekreuzt ist auf dem Bogen „nicht erbkrank“ und dort, wo zur Auswahl „Behandlung“ oder „Beobachtung“ steht, ist „Behandlung“ ausgewählt.
Kinder mit dem Down-Syndrom, die zu Hause versorgt wurden und über deren Heilchancen sich Eltern wenig Hoffnung machten, waren eine Hauptzielgruppe, die der „Reichsausschuss“ von ihren Eltern lösen und in Kinderfachabteilungen einer so genannten „Behandlung“ zuführen wollte. Ab dem Ankreuzen von „Behandlung“ war das Schicksal eines Kindes in einer solchen Einrichtung gewissermaßen besiegelt. In diesem Kontext zeigen die Briefe zwischen der besorgten Mutter und Direktor Faltlhauser uns heutigen Lesern besonders tragisch den Ablauf eines solchen Mordplanes, von dem die Mutter nichts wissen konnte und der sich nur durch ein Lesen zwischen den Zeilen erschließt.
Die Mutter fragte am 25.3.1944 in einem Brief nach, wie sich ihr Kind eingewöhnt hat und wie es sich verhält. Sie fügte hinzu: „Hoffentlich machte er keine großen Schwierigkeiten, doch glaube ich, dass es ihm bei den Kindern schon gefällt und im übrigen ist er ja erträglich und nicht besonders bösartig.“ In der Antwort hieß es unter anderem: „Es sitzt meist in der Haltung einer Buddhastatue unter den anderen Kindern und kümmert sich wenig um sie. (…) Die Aussichten für die Zukunft kann ich leider nicht günstig beurteilen.“ Auch in einem weiteren Brief vom 12.4.1944 aus Kaufbeuren tauchte wieder dieses Bild der Buddhastatue auf und wurden die Aussichten als „ungünstig“ beschrieben. Dazu kam der Zusatz: „… im jetzigen Zustand anstaltspflegebedürftig“.
Am 31.5.1944 schickte Frau Christ Sommerkleidung für Otto und fragte nach, ob sie und ihr Mann ihn während des Urlaubs ihres Mannes im Juli besuchen können. Gegen einen Besuch der Eltern kam kein Einwand. Laut Anstaltsbrief vom 7. Juni 1944 zeigte Otto „eine allgemeine Stumpfheit“ und „wenig Interesse an der Umgebung“. In den Unterlagen ist dann allerdings kein Besuch der Eltern vermerkt und es ist unklar, ob sie den geplanten Besuch durchgeführt haben.
Doch am 23. Juli 1944 ergriff erstmals der Vater das Wort und schrieb Folgendes an Direktor Faltlhauser:
„Nachdem bei unserem Kind, Otto Christ, das Lernen aussichtslos ist und er uns zu Haus keine Schwierigkeiten macht, haben wir uns entschlossen, das Kind wieder heimzuholen.“
Aber zwei Tage später wurde dieser Plan von Frau Christ widerrufen. „Wir haben es uns nun nochmals überlegt, das Kind doch noch dort zu lassen, wenigstens solange in Ulm die Fliegergefahr ist.“ Anscheinend befassten sich die Eltern mit dem Gedanken eines Abbruchs des Anstaltsaufenthalts und wir wissen nicht, ob die Hindernisse dafür zu hoch waren oder ob die reale Gefahr von Luftangriffen auf Ulm und die wachsenden Einschränkungen des Lebens tatsächlich dagegen sprachen.
Anfang September erkundigte sich die Mutter erneut besorgt und liebevoll, wie es dem Jungen geht und kündigte einen Besuch für Anfang Oktober an. In der Antwort von Faltlhauser heißt es „…. keine Anzeichen für eine geistige Entwicklung (…) das körperliche Befinden gibt zu Klagen keinen Anlaß“. Und wieder: „Ich habe Ihnen seinerzeit bereits mitgeteilt, dass die Aussichten für die Zukunft des Kindes ausserordentlich ungünstige sind.“
Als nächstes findet sich in dieser Verwaltungsakte ein undatierter Entwurf eines Telegramms an Maria Christ mit den drei Worten: „Otto lebensgefährlich erkrankt.“ In der unteren linken Ecke des Zettels findet sich der handschriftliche Eintrag „6. 11. 44“. In den späteren Prozessakten ist das als Todesdatum für Otto Christ vermerkt. Am 9.11.1944 wurde der tote Junge im gerade eröffneten Krematorium der Kaufbeurer Anstalt eingeäschert. Am 18. Dezember wurde die Urne an die Eltern nach Ulm geschickt und dann auf dem Friedhof beigesetzt. Als Todesursache wurde in der Kaufbeurer Verwaltungsakte „Darmkatarrh“ notiert und vermutlich auch den Eltern so mitgeteilt.
Wie kamen und kommen Historiker, Juristen und auch Ärzte dazu, die Mitteilungen aus Kaufbeuren – so wie aus anderen Kinderfachabteilungen – anzuzweifeln?
Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren war bereits seit dem Abtransport von kranken Insassen zu den Tötungsanstalten der T4-Aktion (vor allem nach Grafeneck) in den Jahren 1940/41 von der Bevölkerung der Umgebung mit Misstrauen beobachtet worden. Doch auch nach Abbruch dieser Aktion ließen wegen der vielen Todesfälle in der Einrichtung die Gerüchte über Krankenmorde nicht nach, auch nicht in den ersten Monaten nach Kriegsende. Anfang Juli 1945 besichtigten amerikanische Offiziere diese Anstalt und auch die Räume der Kinderfachabteilung. Sie fanden dort zahlreiche abgemagerte Kinder, die apathisch vor sich hin vegetierten und dem Tod entgegen dämmerten. Der Anstaltsleiter Faltlhauser war zwar schon am 10. Juni 1945 interniert worden. Doch der Vorwurf der Ermordung von Erwachsenen und Kindern durch Nahrungsmittelentzug oder überhöhte Medikamentengaben wurden erst untersucht, nachdem sich diese US-Offiziere dort selbst ein Bild gemacht hatten. Ein Teil des Pflegepersonals wurde verhaftet, Falthausers ehemaliger Stellvertreter beging Selbstmord. 1947 begannen schließlich am Landgericht Kempten die Voruntersuchungen zu einem Prozess „wegen Tötung Geisteskranker in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren“, oft wegen dem Hauptverantwortlichen auch kurz „Faltlhauser“-Prozess genannt.
Zur gleichen Zeit fanden auch die Voruntersuchungen des Amtsgerichts Münsingen gegen die Verantwortlichen für die Krankenmorde in Grafeneck statt. Dabei gab es auch Ermittlungen zur „Kindereuthanasie“ an Württemberger Kindern. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurde beim Landgericht Kempten nachgefragt, welche Württemberger Kinder in Kaufbeuren behandelt worden waren und gestorben sind oder ermordet wurden. Während der ehemalige Kaufbeurer Anstaltsleiter dort zunächst die Wahrheit in Bezug auf Otto Christ zu verschleiern versuchte („kann sich an das Kind nicht erinnern“), sagte die Pflegerin der Kaufbeurer Kinderfachabteilung Minna Wörle aus, dass sie „mit Sicherheit“ den Tod von Otto Christ herbei geführt habe. In den Ermittlungsakten, die im Staatsarchiv in Augsburg einzusehen sind, kann man im Einzelnen nachlesen, wie und welche Medikamente für die Tötung der Kinder mit Hilfe der Berliner Behörden von der Anstaltsleitung beschafft und vom Personal verabreicht wurden. Die Kinder bekamen meist zunächst Luminal in Tablettenform, das sie in einen schläfrigen Zustand versetzte. Der verantwortliche Direktor gab dann oft noch den Auftrag, eine Spritze mit Morphium-Scopolamin zu setzen. Diese Anweisungen gab Faltlhauser nur mündlich und nur wenige Personen waren in die Vorgänge eingeweiht. Klar wird in den Akten auch, dass die besonderen „Pflegerinnen und Pfleger“ zum Teil extra für diese „Arbeit“ eingestellt wurden und dass Faltlhauser in Schulungen und Besprechungen mit Details seines Auftrags bekannt gemacht wurde. Er war auch selbst seit August 1940 als Gutachter (besser: „Entscheider“ über Leben und Tod) sowohl für die Erwachsenen- als auch für die Kinder- „Euthanasie“ tätig.
Vom Ermittlungsrichter aus Kempten wurden also die Namen der in Kaufbeuren gestorbenen Württemberger Kinder an das Amtsgericht Münsingen weitergegeben. Aus Ulm stammte gemäß dieser Liste außer Otto Christ noch ein weiterer Junge. Er war aber erst am 23.5.1945, also nach Kriegsende, in Kaufbeuren verstorben. Deshalb wurden damals über seinen Tod keine gerichtlichen Untersuchungen durchgeführt.
Von den Münsinger Ermittlern wurden schließlich 1948 zahlreiche Gesundheitsämter in Württemberg angeschrieben und nach Namen und Verbleib von weiteren Kindern gefragt, die von den Gesundheitsämtern an den „Reichsausschuss“ zu einer Verlegung in eine Kinderfachabteilung gemeldet worden waren. Die neue Leitung des Gesundheitsamts Ulm konnte zum Verbleib der in den Jahren 1940 -1945 von Ulm nach Berlin gemeldeten über 30 Kinder aus Ulm und Umgebung keine Auskunft geben und verwies auf die Zerstörung aller Akten infolge eines Fliegerangriffs von 1944. Bei der darauf folgenden Nachfrage beim ehemaligen Leiter des Ulmer Gesundheitsamts Dr. Eduard Schefold hieß es in dessen Antwort an die Polizeidirektion Ulm, dass er „persönlich sehr wenig damit zu tun gehabt habe“ und dass Meldungen über solche Kinder „von einer Angestellten des Amtes nicht direkt an den Reichsausschuss in Berlin, sondern an das Württ. Innenministerium in Stuttgart gesendet wurden“. Auch dieser Entscheidungsträger stahl sich aus der Verantwortung, so wie es vorher der Leiter der Kaufbeurer Kinderfachabteilung Faltlhauser versucht hatte.
Problematisch scheint bei diesen Nachforschungen zu den Einweisungen und Abläufen in Kinderfachabteilungen der Umgang mit den Eltern von Otto Christ gewesen zu sein. Da über das Gesundheitsamt Ulm im Nachhinein nichts über die Vorgänge zu Ottos Aufnahme in der Kinderfachabteilung Kaufbeuren zu erfahren war und der ihn früher behandelnde Kinderarzt Dr. Ziegler 1947 verstorben war, sprach die Kriminalpolizei Ulm im Juni 1948 bei seinen Eltern vor. Im Bericht der Beamten vom 17.6.1948 an das Amtsgericht Münsingen wurden nun diese selbst als aktiv die Einlieferung ihres Sohnes in die Einrichtung Betreibende geschildert, nicht das Gesundheitsamt, wie wir es im ersten Brief von Maria Christ sehen können. Es wird in dem Polizeibericht ausdrücklich und auffallend langatmig betont, dass die Einlieferung „ohne jeglichen Zwang geschah und keine Behörde (…) das veranlasst hat.“ Auch wird von häufigen Darmbeschwerden Ottos vor seinem Anstaltsaufenthalt geschrieben, anscheinend um auf einen natürlichen Krankheitsablauf und Tod zu verweisen. Wenn wir die Aussagen des Kaufbeurer Pflegepersonals beim Kemptener Landgericht nicht kennen würden, müssten wir diesem Polizeibericht Glauben schenken. So aber muss man zum Schluss kommen, dass sich die Ulmer Polizei- und Gesundheitsbehörden des Jahres 1948 noch nicht kritisch mit der Möglichkeit der „Euthanasie“ auseinander gesetzt hatten oder mangels Einblick in die vielfach geheim gehaltenen Abläufe sich das Ausmaß der Tötungsmaßnahmen auch nicht vorstellen konnten. Auf die Eltern von Otto Christ wurde offensichtlich noch vier Jahre nach dessen Tod Druck ausgeübt, die Abläufe so darzustellen, dass staatliche Stellen von jedem Vorwurf der Einflussnahme auf die Behandlung des Kindes entlastet waren. Die Eltern und der Bruder von Otto sind mittlerweile verstorben, so dass wir durch die Familie keine Auskünfte mehr über die damaligen Vorgänge erhalten können.
Wir müssen uns also vorstellen, dass der hilfsbedürftige Junge, nachdem er auf medizinischen Fragebogen, die damals zwischen Ulm und Stuttgart/Berlin oder Kaufbeuren und Berlin ausgetauscht wurden, als „lebensunwert“ eingestuft worden war, aus seiner gewohnten Umgebung gerissen wurde und einer „Behandlung“ ausgesetzt war, die nicht auf Besserung oder wenigstens Bewahrung seines Gesundheitszustandes, sondern auf sein Ableben zielte.
Recherche und Text: Karin Jasbar und Angelika Liske
Quellen/Dokumente:
Verwaltungsakte Otto Christ: Briefwechsel Maria Christ/Direktor Valentin Faltlhauser (1944). Historisches Archiv Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren.
Staatsanwaltschaft Augsburg:Voruntersuchung wegen Tötung Geisteskranker („Faltlhauserprozess“). Staatsarchiv Augsburg, Ks1/1949.
Staatsanwaltschaft Tübingen: Strafakten/1936-1951, Grafeneckprozess, Ermittlungen zur Kindereuthanasie. Staatsarchiv Sigmaringen Wü 29/3 T1 Nr. 1757.
Literatur:
Banzenhöfer Udo: Kinderfachabteilungen und „NS-Kindereuthanasie“. Wetzlar 2000.
Michael v. Cranach, Hans-Ludwig Siemen (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945. München 1999.
Michael v. Cranach: 2. Juli 1945. Das verspätete Kriegsende in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. In Peter Fassl (Hrsg.): Das Kriegsende in Bayerisch-Schwaben 1945, S. 151-158. Augsburg 2006.
Ulrich Pötzl: Die letzten Kriegsmonate in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. In Peter Fassl (Hrsg.): Das Kriegsende in Bayerisch-Schwaben 1945, S. 143-149. Augsburg 2006.
Walter Wuttke: Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und die „Euthanasie“ in Ulm. In Gotthold Knecht (Hrsg.): Zeitzeugen aus Demokratie und Diktatur 1930 – 1950, Bd. 2, Blaubeurer Geographische Hefte 25, S. 119 -162. Blaubeuren 2002.
Die Stolpersteingruppe dankt der Klinikleitung und dem Historischen Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren für den Zugang zum Briefwechsel zwischen Maria Christ und dem damaligen Anstaltsleiter, was neue Einsichten über die Einstellung der Familie und den Ablauf der „Behandlung“ Ottos in Kaufbeuren ermöglicht hat. Außerdem danken wir Dr. Walter Wuttke für die vielfältigen Hinweise zu Quellen und Literatur zum Thema „Kindereuthanasie“.