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Rabbiner Dr. Julius Cohn

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Rabbiner Dr. Julius Cohn. Quelle: Gemeinde-Zeitung f. d. isr. Gemeinden Württembergs, courtesy of the Leo Baeck Institute

Rabbiner Dr. Julius Cohn. Quelle: Gemeinde-Zeitung f. d. isr. Gemeinden Württembergs, courtesy of the Leo Baeck Institute

Dr. Julius Cohn wurde am 5.12.1878 in der westpreußischen Kleinstadt Graudenz (Grudziadz im heutigen Polen), südlich von Danzig (Gdansk) geboren. Sein Vater Isaak Cohn war dort Kantor und Religionslehrer und lebte mit seiner Familie erst seit wenigen Jahren in der Stadt. Bekannt sind vier ältere Brüder von Julius, die in der 40 Kilometer entfernten Stadt Nakel (Naklo) geboren wurden, und zwei in Graudenz geborene Schwestern. Seine Mutter, Pauline, geb. Sander zog später mit den Kindern nach Gnesen (Gniezno) in der Provinz Posen. Unbekannt ist das Schicksal seines Vaters, der seinen letzten Wohnort in Hirschberg (Jelenia Góra) in Niederschlesien hatte.

Julius erster Schulbesuch war allerdings nicht in Deutschland, sondern in der englischen Stadt Leeds. In dieser zweitgrößten jüdischen Gemeinde Großbritanniens lebten viele Auswanderer aus Preußen; denkbar ist, dass Julius‘ Eltern dort Verwandte hatten. Sie blieben aber nicht lange dort und Julius ging bald in die Elementarschule in Deutschland, zuerst in dem Städtchen Mogilno und dann in Gnesen. Dort trat er auch mit 13 Jahren in das Königliche Gymnasium ein, das er Ostern 1900 mit dem Reifezeugnis (Abitur) verließ.

Julius Cohn ging anschließend nach Berlin, um an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) Medizin zu studieren. Nach drei Semestern wechselte er aber zu orientalischer Philologie und Philosophie und studierte gleichzeitig Theologie an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Dieses 1872 gegründete, unabhängige Institut hatte als Ziel die an keine religiöse Richtung gebundene wissenschaftliche Forschung und Lehre. Unter Cohns Lehrern dort waren z.B. Ismar Elbogen, späterer Mitherausgeber der Encyclopaedia Judaica und der Arabist Martin Schreiner, der kritisch die Ursachen des zeitgenössischen Antisemitismus ausleuchtete.

"Heimatlos", von Julius Cohn, veröffentlicht in "Ost und West", 1902, November Heft.

„Heimatlos“, von Julius Cohn, veröffentlicht in „Ost und West“, 1902, November Heft.

Allerdings zeigte Cohn während seiner Studentenzeit auch künstlerische Neigungen. Bei dem Preisausschreiben der jüdischen Kulturzeitschrift „Ost und West“ im Jahr 1902 erhielt sein Gemälde „Uwo Lezion Goel“ (es kommt der Erlöser nach Zion) von den Preisrichtern E.M. Lilien, Hermann Struck und Lesser Ury „als relativ beste Arbeit“ den zweiten Preis (der erste Preis wurde nicht vergeben).[1] Die seit 1901 erscheinende und zionistisch orientierte Zeitschrift wollte den assimilierten Westjuden das Kulturerbe der Ostjuden eröffnen. Unter dem Titel „Heimatlos“ wurde das dem Genre des verfolgten Ostjuden entsprechende Bild im November-Heft von „Ost und West“ veröffentlicht.

Ein enger Freund war der gleichaltrige Musikstudent Ari Marcuse, dem Cohn seine Doktorarbeit widmete; seine beiden Eltern, denen die Arbeit üblicherweise gewidmet worden wäre, waren schon verstorben. Der Vater seines Freundes war der in Berlin geborene klassizistische Maler Elie Hirsch Marcuse, der allerdings schon 1894 nach Antwerpen ausgewandert war.

Seine Promotionsarbeit reichte Cohn nicht in Berlin, sondern in Heidelberg ein, wofür er 1906 einige Monate in der Stadt am Neckar verbrachte. Der Grund muss der Semitist Prof. Carl Bezold gewesen sein, ein Experte in der arabischen Sprache des Mittelalters. Bei Cohns Arbeit ging es nämlich um die Übersetzung eines im 15. Jahrhundert auf Arabisch in hebräischer Schrift verfassten Textes, die „Abhandlung über die Pflichten der Priester und Richter bei den Karäern“ des jüdischen, karäischen Gelehrten Samuel al-Magrebi aus Kairo. Die Karäer sind eine im 8. Jahrhundert gegründete jüdische Religionsgemeinschaft, die ihre Lehre ausschließlich aus der Tora beziehen und den Talmud ablehnen. Auch ein verbindliches Lehramt, z.B. den Rabbiner, kennen sie nicht.

Die Promotionsurkunde bekam Cohn erst am 10. März 1908. Er war aber schon früher zur Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin zurückgekehrt, die inzwischen in ein eigenes Gebäude in der Artilleriestraße 14 (heute Tucholskystraße 9) eingezogen war.[2] Die Anstalt war zu einer wichtigen Schule für das Reformjudentum geworden, an der zahlreiche Rabbiner ihre Ausbildung erhielten. Auch Julius Cohn ließ sich dort über mehrere Jahre zum Rabbiner ausbilden. Während dieser Zeit arbeitete er als akademischer Religionslehrer und Hilfsprediger in Berlin. Das Rabbinerexamen bestand er im Juni 1913, blieb aber bis 1915 in Berlin.

Sein erstes Rabbinat übernahm er im Oktober 1915 als Landrabbiner für das Fürstentum Birkenfeld (eine Exklave des Großherzogtums Oldenburg), mit Sitz in Hoppstädten in der heutigen Pfalz. Die Synagoge dort hatte seit vielen Jahren eine liberale Tradition, verbunden mit dem Namen von David Einhorn, später eine der führenden Personen im Reformjudentum in den USA.

Schon im Folgejahr heiratete Julius Cohn in Düsseldorf seine erste Frau Herta Hahn (geboren 1892 in Schlüsselburg, Minden).[3]

1919 wechselte er nach Karlsruhe und arbeitete dort als 2. Stadtrabbiner mit Zuständigkeit auch für den Religionsunterricht. Als 1923 der 1. Stadtrabbiner Karlsruhe verließ, übernahm Cohn dessen Vertretung. Von 1925 bis 1928 war Cohn dann Bezirksrabbiner in Canstatt und 2. Rabbiner und Religionslehrer in Stuttgart. Er war in der Gemeinde vor allem für Religionsunterricht in den Schulen und für die Jugendarbeit verantwortlich und wurde als Vorsitzender des entsprechenden Landesvereins auch in anderen Württembergischen Gemeinden bekannt. Er wurde geschätzt als „nicht nur der verehrte Lehrer, sondern zugleich auch der liebenswürdige Freund unserer Kinder“.[4]

In dieser Zeit wurde er Anhänger der „Vereinigung für das liberale Judentum“.[5] Damit distanzierte sich Cohn nicht nur von der orthodoxen Richtung, sondern auch von den Zionisten. Ziel der 1908 gegründeten Vereinigung mit ihrer eigenen Jugendorganisation und der Zeitschrift „Liberales Judentum“ war nämlich „eine freiheitliche Erneuerung des Judentums durch die deutschen Lande“.[6] Sie befürworteten den Gebrauch der deutschen Sprache und der Orgel in Gottesdiensten und wollten die Liturgie weiter reformieren; es waren Änderungen, die nicht nur die Orthodoxen, sondern, wenn auch aus anderen Grunden, die Zionisten ebenfalls ablehnten.

Julius Cohn wurde 1928 Bezirksrabbiner in Ulm als Nachfolger des früh verstorbenen Dr. Ferdinand Straßburger, der auch in Hoppenstädt Cohns Vorgänger gewesen war. Auch Straßburgers Vater Jesajas war 1906 bis 1915 Rabbiner in Ulm gewesen; solche Verbindungen waren auch wichtig bei der Weiterführung der liberalen Traditionen der erst 1888 gegründeten Ulmer Gemeinde.[7] 1930 betreute Cohn für einige Zeit auch das Rabbinat Oberdorf (Bopfingen) nach dem Tod des dortigen Rabbiners.

In der Ulmer Gemeinde war Dr. Cohn sehr beliebt, erinnert sich die 1921 in Ulm geborene Ann Dorzback, geb. Wallersteiner: „Seine Predigten waren interessant, vielseitig und sinnvoll. Da er ein sehr reines Deutsch sprach waren seine Worte immer deutlich zu verstehen, sogar für uns Kinder. Meine ältere Schwester Lotte hatte in einer Gruppe bei Dr. Cohn Konfirmationsunterricht. Schon damals sagte sie mir immer, dass man mit dem Rabbiner über alles Mögliche diskutieren konnte. Als diese Feier [Bat Mitzvah] vorbei war, entschlossen sich die Schüler Dr. Cohn zu fragen, ob der Unterricht verlängert werden  könnte. Die Schüler haben ihn ebenfalls sehr geschätzt. Er war immer für andere da.“[8]

Ein wichtiges Anliegen Cohns war das Bekämpfen von Verunglimpfungen des jüdischen Glaubens, die auf Missdeutungen des Talmuds beruhten. Zu diesem Zweck hielt er öffentliche Vorträge mit geladenen Gästen der anderen Glaubensbekenntnisse und organisierte regelmäßige Führungen durch die Synagoge für evangelische und katholische Schüler in Begleitung ihrer Religionslehrer. Weitere Führungen fanden z.B. mit Mitgliedern des Chores der Martin-Luther-Kirche statt. Auch stiftete er der Lehrerbibliothek des Gymnasiums das fünfteilige Werk „Die Lehre des Judentums“.[9]

Wie stark sich Cohn mit der liberalen, nicht-zionistischen Richtung verbunden fühlte zeigte er 1929 bei der Gründung einer Ulmer Ortgruppe des Hilfsvereins der Deutschen Juden in einem Vortrag über die Verdienste für Vaterland und Judentum von Paul Nathan. Der in die SPD eingetretene Nathan war ein Retter der verfolgten osteuropäischen Juden aber auch ein starker Befürworter der jüdischen Assimilation in Deutschland. Einige Monate später nahm Cohn an einer Diskussion nach der Rede des Stuttgarter Ministerialrats Hirsch über Palästina-Aufbau teil; Cohn begrüßte die philanthropische Seite der Unterstützung der jüdischen Siedlung, sprach sich aber gegen politische Ziele in Palästina aus.[10]

Julius Cohn war auch Vorsitzender des Chorvereins. Sein besonderes Interesse galt der Entwicklung des synagogalen Gesangs. Am Anfang seines Wirkens in der Stadt war die Einbindung der jüdischen Ulmer in das soziale Leben der Stadt noch ungebrochen. Insbesondere im musikalischen Leben der Stadt war dies der Fall. Seit 1927 wirkte der junge christlicher Musiker und Lehrer Adolf Kern als Organist in der Synagoge und gleichzeitig als 2. Organist am Ulmer Münster. In einem gemeinsamen Konzert der Synagogenchöre aus Ulm und Leipheim wurden Stücke von Lewandowski, Mendelsohn und Schumann aufgeführt. In diesen Jahren fanden viele Synagogen-Konzerte statt, bei denen jüdische und christliche Musikfreunde ein die Musiktraditionen überbrückendes Programm anboten, z.B. bei dem Konzert zu Gunsten der Arbeitslosen Ulms noch am 22. Mai 1932.[11]

Die Gemeinde Zeitung f. d. isr. Gem. Württembergs berichtete am 16.3.1931 über Cohns Kamps gegen deas Schächtverbot

Die Gemeinde Zeitung f. d. isr. Gem. Württembergs berichtete am 16.3.1931 über Cohns Kamps gegen deas Schächtverbot

Nach 1930 verdichteten sich aber die Anzeichen des kommenden Sturms. 1931 begann die NSDAP-nahe und im Ulmer Gemeinderat stark vertretene Deutschnationale Volkspartei eine Kampagne mit dem Ziel, das jüdische Schächten in der Stadt zu verbieten. An Rabbiner Dr. Cohn fiel die Aufgabe, die Vorgehensweise des Schächtens der Öffentlichkeit zu erklären und ihren Einklang mit den Prinzipien des Tierschutzes zu beweisen. In einer an den Gemeinderat gerichteten Erklärung zeigte er anhand mehrerer Beispiele, wie der Talmud und die heiligen Schriften die Tierquälerei verbieten.[12] Obwohl der Antrag der DNVP abgelehnt wurde, wurde die antisemitische Stimmung mit der Frage des Schächtens immer stärker aufgeheizt. Im Oktober 1932 hielt Rabbiner Cohn in dem Sabbat-Gottesdienst eine Predigt zum Welttierschutztag, „Tierschutz im Judentum“. Unter den Zuhörern befand sich auch der Vorsitzende des Ulmer Tierschutzvereins.[13]

Mit der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 wurde Cohns liberale Einstellung zu Judentum und Deutschsein in seinen Grundsätzen in Frage gestellt und der gesellschaftlichen Assimilation, wie sie von einem Großteil der Ulmer Juden praktiziert wurde, den Boden entzogen.  Wie lang es dauerte, bis Cohn dieser Tatsache Rechnung trug ist nicht bekannt. Im März 1933 stand u.a. sein Name im Ulmer Tagblatt unter einer Aufforderung an die jüdischen Gemeindemitglieder: sie sollten auf ihre Verwandte in den USA einwirken, die von amerikanischen jüdischen Organisationen organisierte Boykott-Bewegung gegen deutsche Waren abzubrechen.[14] Die Aufforderung war Ausdruck der von liberalen und deutschnationalen jüdischen Organisationen am Anfang der Nazizeit noch beschworenen „unlösbaren Verbundenheit mit dem deutschen Vaterland“.[15]

Schnell wurde aber klar, dass Rabbinat und Gemeinde mit Aufgaben konfrontiert waren, die ihr bisheriges Selbstverständnis sprengten. Da Juden aus dem städtischen Vereinsleben ausgeschlossen wurden, mussten in kürzester Zeit neue Sport-, Kultur- und Karitativvereine ausschließlich für Juden gegründet werden. Aus der Not wurde mit dem Wiedererstarken der jüdischen Identität eine Tugend geboren. Rabbiner Cohn beschwor nun in einer Vortragsreihe die „Sehnsucht nach Rückkehr… zum Willen fürs Judentum“. Die alten Gegensätze zwischen Assimilation und Zionismus wurden verdrängt und unter Cohns Vorsitz ein neuer Gemeindeausschuss gegründet, der die Gemeindemitglieder auf geistigem und kulturellem Gebiet fördern sollte. Bezeichnenderweise wurde der Ausschuss nun paritätisch mit Vertretern der zionistischen und der liberalen Richtung besetzt.[16] Zu den von Cohn nach Ulm eingeladenen Vortragenden gehörte in dieser Zeit auch Martin Buber.

Es gab in den Jahren 1934 und 1935 einige beeindruckenden Veranstaltungen in der Gemeinde. Aber das wiedererweckte jüdische Leben war nicht das, was die Nazis erwartet hatten oder wollten.1935 wurde das gesamte jüdische Kulturleben in einem dem Reichspropagandaminister Goebbels unterstellten jüdischen Kulturbund gleichgeschaltet. In Ulm wurde Rechtsanwalt Ernst Moos Vorsitzender, Rabbiner Cohn war nur für „kulturelle Angelegenheiten“ verantwortlich. Interessante Vorträge und Konzerte mit bekannten Musikern gab es wohl nur noch wenige. Stattdessen wurde das Gemeindehaus am Weinhof umgebaut, um Platz für Heimabende für die Jugend, eine Gaststätte, Bibliothek, Lesezimmer, Wirtschaftsräume, einen Versammlungssaal und später auch Schulräume zu machen. Das Rabbinat zog um in die Lange Strasse 18, wo auch Rabbiner Cohn und seine Frau jetzt ihre Wohnung hatten.

1936 wurde es vielen Familien klar, dass sie in Deutschland keine Zukunft hatten. Die bis dann verhältnismäßig kleine Anzahl der „Auswanderungen“ schwoll an und vor allem viele Zionisten entschieden sich jetzt zum Abbruch ihrer Beziehungen zu Deutschland und zum Aufbruch nach Palästina. Für Rabbiner Cohn war es eine schwierige Aufgabe, seiner Gemeinde das Scheitern sämtlicher Hoffnungen auf eine gleichberechtigte Zukunft für Juden in Deutschland zuzugeben. Noch ahnten die wenigsten, dass fast keiner, der blieb, mit dem Leben davon kommen würde.

In diesem Jahr musste sich Cohn dem Aufbau der jüdischen Schule für die aus den städtischen Schulen ausgeschlossenen jüdischen Kindern widmen. Es war wahrscheinlich auch im Laufe von 1936, dass Julius Cohns Frau Herta an Krebs erkrankte. Die Krankheit stellte sie und ihre Pflege immer mehr im Mittelpunkt des Lebens des Rabbiners. Es war Dorothea Meth, die ihm in dieser Zeit zu Hilfe kam und dafür sorgte, dass Herta eine angemessene Pflege bekam. Im Nachbargebäude zum Rabbinat befand sich das von Dorotheas Schwester Herta Anguli und ihrem Mann Max geführte Wohlwertgeschäft und gerade Anfang 1936 kam Dorothea nach Herrlingen in der Nähe von Ulm, um eine Stelle im dortigen Kinderheim anzunehmen. Vielleicht bei einem Besuch bei ihrer Schwester in der Stadtmitte von Ulm lernte Dorothea den Rabbiner kennen.

Bei Herta Cohn verschlimmerte sich die Erkrankung, so dass die nur 44 Jahre alte Frau bettlägerig wurde. Dorothea Meth gab ihre Stelle in Herrlingen auf und zog als Haushälterin mit ihrem kleinen Sohn Ernst-Otto in die große Rabbinerwohnung in der Langen Straße ein. Sie pflegte Herta Cohn bis zu ihrem Tod am 23. März 1938. Kurz danach zog Dorothea mit ihrem Sohn zurück nach Herrlingen und nahm wieder ihre dortige Stelle auf.

Während Herta schwer krank war, begann die NSDAP-kontrollierte Ulmer Tageszeitung „Ulmer Sturm“ eine Kampagne für die Entfernung der Jesaja-Inschrift an der Synagoge. Die Inschrift aus Jesaja (56, 7) lautete „Mein Haus heiße ein Bethaus für alle Völker“ und stand auf Hebräisch und Deutsch über den Eingang. In einem Brief an das Israelitische Vorsteheramt im November 1937 verlangte auch der Nazi-Oberbürgermeister Foerster deren Entfernung. Rabbiner Cohn scheint sich nicht in dieser Angelegenheit eingemischt zu haben und die Inschrift wurde bald entfernt.[17]

Rabbiner Dr. Julius Cohn, spätere 30er Jahren. Quelle: DZOK

Rabbiner Dr. Julius Cohn, spätere 30er Jahren. Quelle: DZOK

1938 verringerte sich die Zahl der „Auswanderungen“. Es gab noch viele, die glaubten, dass der Nazi-Spuk sich selbst erledigen würde. Das änderte sich mit der Pogromnacht am 9. November 1938. Rabbiner Cohn wurde aus seinem Haus geholt und am NSDAP-Büro und Rathaus vorbei die Lange Straße entlang gezerrt, dann von einem johlenden Mob durch die Sattlergasse bis zum Weinhof getrieben. Vor der schon brennenden Synagoge wartete eine gewaltbereite, erregte Gruppe von Ulmern, zumeist wohl SA-Mitglieder, auf ihn. Zusammen mit anderen bekannten Juden aus der Stadt wurde er in das leere Becken des Christophorusbrunnen geworfen und gezwungen, von Schlägen und Hieben angetrieben, begleitet von Gejohle und Grinsen, im Kreis in dem Brunnen zu laufen. Insbesondere wetteiferten die Männer, wer den Bart des Rabbiners anzünden konnte.[18]

Von den Verletzungen in dieser Nacht erholte sich Julius Cohn nie. Als die anderen jüdischen Männer am nächsten Tag nach Dachau gebracht wurden, fand der herbeigerufene Polizeiarzt es besser Cohn in die Innere Abteilung des Städtischen Krankenhauses zu überweisen. Dort wurde befunden:

„Ganze linke Gesichts- und Schädelhälfte verbunden. Nach Abnahme des Verbandes ausserordentlich starke Haematome in der ganzen linken Gesichtshälfte einschl. Nase, Augenlider und linkes Ohr. Das linke Auge ist vollkommen zugeschwollen und blutet, die Conjunctiva zeigt großes Haematom. Lippen stark geschwollen. Großes Haematom unterhalb des Kinnes am Hals, sodass die normale Halskonfiguration restlos verstrichen ist. Das linke Ohr steht infolge des Blutergusses stark ab.“[19]

Cohn blieb fast vier Wochen im Krankenhaus. Als er entlassen wurde, zog Dorothea Meth mit ihrem kleinen Sohn von Herrlingen wieder nach Ulm, um ihn in seiner Wohnung pflegen zu können. Das Fünkchen Freude, das der kleine Ernst-Otto in die große Wohnung in der Lange Straße brachte, war genau, was Julius Cohn brauchte. Aber jetzt war es klar, dass alle so schnell wie nur möglich aus Deutschland fliehen sollten. Nur wie, wenn überall in der ganzen Welt die Grenzen gegen jüdische Flüchtlinge geschlossen wurden?

Für Rabbiner und ihre Familien war es immer noch möglich, Ausreisebewilligungen zu bekommen, falls sie aus dem Ausland eingeladen wurden. Aus Edinburgh in Großbritannien kam ein Angebot der dortigen jüdischen Gemeinde Rabbiner Cohn und seine Familie aufzunehmen. Für Julius erschien es naheliegend, auch für Dorothea und Ernst-Otto zu sorgen, indem er sie zu seiner Familie machte. Am 8. Februar 1939 heiratete Julius Cohn Dorothea Meth am Ulmer Standesamt mit Kantor Rudolf Loewy und Albert Oettinger als Zeugen; kurze Zeit später adoptierte Cohn auch Dorotheas Sohn Ernst-Otto.

In den folgenden Wochen war das neue Ehepaar mit den Fluchtvorbereitungen schwer beschäftigt; es stand ihnen ein „Lift“ zur Verfügung, ein Container, in dem der gesamte Haushalt verpackt wurde. Dazu gehörte nicht nur der Besitz von Julius, sondern auch die von Dorotheas Vater für ihre Vermählung neu gekauften Möbel und alles nötige inklusive Kinderwäsche für Ernst-Otto. Beim Abtransport wog der Container 3,55 Tonnen. Aber die Ausfuhr wurde von der NS-Regierung nicht ohne weiteres erlaubt – es musste dafür eine sog. Dego-Abgabe entrichtet werden, die z.T. den Neuwert der Gegenstände übertraf. Die Vorbereitungen und vor allem die Überwindung der von den Behörden in den Weg gelegten Hindernisse dauerten lange und es war nicht klar, wann man überhaupt die Dego-Abgabe würde bezahlen dürfen!

Wahrscheinlich aus diesem Grund entschied sich die Familie, dass Julius so bald wie möglich nach Edinburgh reisen sollte, während Dorothea noch in Ulm blieb bis die Ausreiseformalitäten erledigt werden konnten, eine Vorgehensweise die wohl auch von den Behörden akzeptiert wurde. Möglicherweise wollten Nazi-Oberbürgermeister Foerster und Polizeidirektor Dreher den schwer verletzten Cohn in Ulm nicht mehr sehen.

Julius Cohn hielt seine Abschiedspredigt vor der Ulmer Gemeinde am 4. April 1939, zum 1. Tag Pessach 5699, mit dem Text „meine Hilfe kommt von Gott“ (Psalm 121). In einem Abschnitt spricht er:

„…Und doch glaube ich an einen Gott, an dem wir wieder Vertrauen gewinnen können, an einen Gott, der uns wieder stark machen kann, damit wir im Kampfe des Lebens bestehen. Nur müssen wir der Grenzen bewusst bleiben, die uns ewig von ihm trennen. Wir dürfen nicht fragen, warum haben wir dieses oder jenes getan, warum haben wir dieses oder jenes über uns verhängt, unsere Frage muss lauten: Welche Kräfte wollt Ihr in uns wecken. Es lebt doch in jedem von uns etwas Gottähnliches, es lebt doch in jedem von uns etwas Göttliches, nenne es Menschenwürde, nenne es Seelen-Adel, nenne es sittliches Bewusstsein, nennt’s wie Ihr wollt, es lebt, es ist da. Ist nun dieses Göttliche, das in uns wohnt, gänzlich oder völlig in der Zeit der Not von uns herausgeholt worden, haben wir es in unserer Arbeit gänzlich zur Entfaltung gebracht? Wenn ja, dann haben wir auch in schwerstem Leid Gott nicht verloren, sondern ihn erst recht gefunden…“[20]

Einige Wochen später im Mai 1939 erreichte Cohn Edinburgh, kurz nachdem Großbritannien die allgemeine Wehrpflicht eingeführt hatte; langsam dämmerte es vielen, das Hitler Krieg wollte. In Ulm entschied sich Dorothea, ihren 4-jährigen Sohn mit einem Kindertransport allein nach Edinburgh zu schicken, allerdings immer noch in der Annahme, dass sie in wenigen Monaten würde folgen können. Am Ende Juni kam Ernst-Otto in Edinburgh an und wurde von einer besonders liebenswürdigen Familie aufgenommen. Adoptiv-Vater Julius konnte ihn im zwei-Wochen Rhythmus besuchen, manchmal machten sie zusammen Ausflüge.

Am 8. Juli konnte Dorotheas Vater die 5.000 RM Dego-Abgabe für die Umzugsgüter bezahlen, aber immer noch verzögerte sich die Ausreiseerlaubnis für Dorothea. Zwei Monate später änderte sich die Lage schlagartig. Mit der britischen Kriegserklärung an Deutschland am 3. September 1939 wurde die Ausreise nach Großbritannien praktisch unmöglich. Julius musste einsehen, dass er in Großbritannien allein bleiben würde. Dazu kam der von den britischen Behörden erzwungene Umzug von Ernst-Ottos Pflegefamilie weg von Edinburgh wegen der pazifistischen Einstellung des Pflegevaters. Julius konnte somit Otto nicht mehr besuchen.

Schon vor der Pogromnacht in Deutschland hatte Cohn ein schwaches Herz und von den Verletzungen in der Pogromnacht hatte er sich nie erholt. Nun, mit dem Verlust der ihm vertrauten menschlichen Kontakte, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Im März reiste er nach London und besuchte Dora, die Tante mütterlicherseits von Dorothea, die auch Verbindung zu den Pflegeeltern von Ernst-Otto hatte. In Doras Haus im Londoner Vorort Golders Green starb er am 18. März 1940.

 

[1] Kalonymos 2015, Heft 4, S. 16.

[2] Heute das Leo-Baeck-Haus, seit 1999 Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland.

[3] Stadtarchiv Ulm H, Bergmann, Nr. 221.

[4] Gemeinde Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, JG. V Nr 9.

[5] Jürgen Schuhladen-Krämer: Julius Cohn. Stadtlexikon Karlsruhe, 2013.

[6] Michael A. Meyer, „Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit: Umstrittene Integration 1871-1918“, Band 3, C.H.Beck, 1996.

[7] Predigt Ferdinand Straßburgers 1918: „Wir sind Glieder des Vaterlandes… Jetzt, durch unser Blut für das Vaterland, gehören wir dazu.“ Zitiert nach einem Vortrag von Michael Brunner 2012 in Ulm (Südwest Presse 30.01.2012).

[8] Email von Ann Dorzback an den Autor, 24.3.2016.

[9] Gemeinde Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, JG. V Nr 15, Nr 24, JG VII Nr 13.

[10] Gemeinde Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, JG. VI Nr 5, Nr 20.

[11] Stadtarchiv Ulm (Hrsg.): „Zeugnisse zur Geschichte der Juden in Ulm“, Ulm 1991, S. 227.

[12] Gemeinde Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, JG. VII Nr 24.

[13] Gemeinde Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, JG. IX Nr 13.

[14] Stadtarchiv Ulm (Hrsg.): „Zeugnisse zur Geschichte der Juden in Ulm“, Ulm 1991, S. 232.

[15] Gemeinde Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, JG. X Nr 1.

[16] Gemeinde Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, JG. X Nr 7, Nr 20.

[17] Stadtarchiv Ulm (Hrsg.): „Zeugnisse zur Geschichte der Juden in Ulm“, Ulm 1991, S. 240.

[18] Barbara Ellermeier: „Hans Scholl: Biografie“, Hoffmann und Campe, 2012.

[19] Stadtarchiv Ulm H, Bergmann, Nr. 221.

[20] Predigt des Bezirksrabbiners Dr. Julius Cohn, Leo Baeck Institute Digital Collections. Die ganze Predigt kann mit dem Link http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=1712363 eingesehen werden.

 

Autor: Mark Tritsch