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Rede von Frau Dr. Geschmay

Die bewegende Rede von Frau Dr. Anna Laura (Hannelore) Geschmay Merovach bei der Verlegung der Stolpersteine für ihre Großeltern Rosa und Dr. Ludwig Hecht im Wortlaut.

(Mit freundlicher Genehmigung)

Liebe Großmutti, lieber Großvatti, es steht hier vor Eurem Grab die kleine Hannelore.
Nein, es ist nicht so! Es ist nicht Euer Grab: Euch wurde nicht nur verboten zu leben, Euch und sechs Millionen anderer Menschen wurde es versagt, den letzten Schlaf in dem Boden zu haben.
Boden eines Landes für welches Ihr und Eure Kinder gekämpft hattet, ein Land, das Ihr geliebt hattet und mit Eurem Wesen verehrt hattet. Ein Land dessen Ihr ehrliche und treue Bürger waren.

Ich, welche von den drei Schwestern die älteste bin, bin dazu auch die einzige, die das Privileg hatte, die ersten Jahre meiner Kindheit mit Euch wesentlich zu verbringen, sogar in Eurer Wohnung in der Olgastraße, als meine Eltern auf Reise waren.
Viele meiner Kindheitserinnerungen sind unvergesslich.

Großmutti war immer bereit meine Streiche zu decken und mich zu verteidigen.
Großvater übte noch seine Praxis aus. Er ruhte nach dem Essen auf dem Sofa aus: es musste schwer sein, mich ruhig und still zu halten.
Großvater bekam zum Frühstuck ein weich gekochtes Ei, bevor er schnell zu seinen Patienten aufbrach. War ich brav gewesen, bekam ich das „Köpfchen“ von seinem Ei.
Streng verboten war es mir, mich dem Viertel der Wohnung zu nähern, wo sein Sprechzimmer war.
Man erzählte, dass Großvater oft anstatt sich bezahlen zu lassen, etwas Geld auf dem Tisch der Kranken legte, um etwas Fleisch zu kaufen.
Und so fließen meine Erinnerungen weiter und mein Kummer ist nicht zu löschen.
Mehreren Ulmern muss mein Großvater geholfen haben, auf die Welt zu kommen.
Meine Mutter erzählte uns oft, dass als man sie als Kind fragte was sie als Erwachsene tun möchte, die Antwort war „die Hebamme“. Es musste für sie etwas ganz besonders sein, weil Papa sofort aufsprang, als diese Frau anrief.
Mein Vater sagte oft, unglaublich für einen Schwiegersohn, dass sein Schwiegervater der beste Mensch gewesen sei, den er je gekannt hatte.
Später, als wir schon in Italien waren, schickte mir meine Großmutti Kinder- und Jugendbücher. Ich konnte sie nicht lesen, sie waren in gotischen Buchstaben gedruckt, und meine brave Mutter las mir abends etwas daraus vor, und so habe ich die deutsche Sprache nicht vergessen.
Nach dem Krieg Ende April 1945, konnten wir in unser schönes Haus in Spinea zurückkommen. In Italien waren wir, besonders nach dem 8. September 1943 bis zum Kriegsende, wegen der deutschen Besetzung in Lebensgefahr gewesen, aber mit Hilfe vieler italienischen Freunde konnten wir uns retten.
Ich erinnere mich, dass ich, damals, abends nach dem Krieg in meinem Bett oft mir die Frage gestellt habe, ob es wohl möglich sei, dass keiner der vier Großeltern am Leben geblieben war. Leider war es so!
Das deutsche Volk ist sehr tüchtig und tapfer, das Land ist sehr schön. Ich war in früheren Jahren öfters beruflich hier. Auch mit Erfolg. Heute bin ich selbst eine alte Großmutter, aber die Wunde ist in mir geblieben.
Es kämpfen in meinem Wesen gemischte Gefühle: Liebe und Wut. Was Schlechtes haben meine vier Großeltern getan?
Die Stolpersteine sollen an sie erinnern.
Hier hat man sie aus ihrem Heim gerissen.