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Rede von Jan Polatschek mit Kaddisch-Gebet

Diese Rede, hier auf Deutsch übersetzt, wurde von Jan Polatschek als Einführung zum Kaddisch-Gebet anlässlich der Stolpersteinverlegungen für Lisa und Otto Polatschek auf Englisch gehalten. Jan Polatschek ist der Sohn eines Cousins von Otto Polatschek. Seine Beschreibung des Besuchs in Ulm für die Stolpersteinverlegung (auf Englisch) kann man in seinem Reiseblog lesen.

 

Herr Oberbürgermeister, Bürger von Ulm, Familie und Freunde,

Danke für die Ehre, heute zu euch sprechen zu dürfen und uns am Ende dieser Zeremonie durch das Kaddisch, das jüdische Totengebet zu leiten. Es wurde erwähnt, dass die heute anwesenden Mitglieder der Familie Polatschek aus Israel, der Schweiz, Thailand und Uruguay angereist sind. Ich stamme aus New York, lebe aber jetzt in Asien. Ich bin der Vertreter der Familie aus Thailand.

Jan Polatschek in Ulm am 29. Oktober 2016

Vor einigen Tagen hatte ich eine Unterhaltung mit meiner thailändischen Freundin Jinjira, die mich sehr berührte. Ich erzählte, dass ich für zwei Wochen nach Deutschland gehen würde. Sie assoziierte das sofort mit einem „bösen Mann“. „Ich denke, er verletzte viele Menschen“, fuhr sie fort. „Ja“ antwortete ich und nannte die große Zahl, die wir alle nur zu gut kennen. Jinjira zeigte keine erkennbare Reaktion. Wie reagiert man auf eine derart vernunftwidrige und nicht fassbare Zahl? Kann man reagieren? Als New Yorker kann ich das beispielsweise so berechnen, dass drei Viertel der Bevölkerung meiner Heimatstadt einfach verschwunden sind. Diese wahnsinnige Statistik ist unvorstellbar.

Ein Augenblick später bekam ich doch eine starke Reaktion von Jinjira. Sie staunte, als ich ihr sagte: „Der böse Mann tötete dreißig Mitglieder meiner Familie.“ Dreißig ist eine Zahl, die Gefühle hervorruft. Dreißig ist eine Zahl, die fassbar ist. Dreißig ist eine Zahl, die man zählen kann. Dreißig Namen von Männern, Frauen und Kindern passen viel zu leicht in einen Familienstammbaum.

Während jener grotesken Jahre des letzten Jahrhunderts starben in ganz Europa – vom Atlantik bis zum Kaspischen Meer, vom Baltikum bis zum Mittelmeer – Millionen und Abermillionen von Soldaten und Zivilisten weit vor ihrer Zeit. Aber selbst wenn nur dreißig getötet worden wären, es wären dreißig zu viel gewesen. Wenn nur diese dreizehn Seelen, derer wir heute gedenken, verschwunden wären, es wären dreizehn zu viel gewesen. Und wenn nur die zwei Cousins, derer wir heute gedenken, gestorben wären, es wären zwei zu viel gewesen.

Ich wurde vor wenigen Minuten angenehm überrascht! Der Chor hat “Down by the Riverside” gesungen, ein Negro Spiritual, das vor dem Bürgerkrieg geschrieben wurde. Und das, wie wir gehört haben, ein fröhliches Lied voll Optimismus und Hoffnung ist. Ich möchte den amerikanischen Chorleiter dafür danken, dass er diese Wahl getroffen hat. Im Süden der Vereinigten Staaten ist eine Afro-Amerikanische Beerdigungsprozession zum Friedhof bis heute ernst und schwermütig. Doch beim Verlassen des Friedhofs ändert sich die Musik dramatisch zu lärmendem Dixieland Jazz, begleitet von ausgelassenem Singen und Tanzen! Trauernde werden zu Menschen, die das Leben feiern, ein Phänomen, das jeder versteht.

In meinen Augen gibt es eine Verbindung zwischen dem beliebten Lied “Down by the Riverside”und dem Gebet, dass wir sprechen werden, dem Kaddish, dem universellen jüdischen Totengebet. In jedem jüdischen Gebetbuch ist das Kaddisch-Gebet in den alten Buchstaben des hebräischen Alphabets geschrieben. Dennoch sind die Worte nicht hebräisch – es sind meist aramäische Worte! Vor zweitausend Jahren und für Jahrhunderte danach, war Aramäisch die lingua franca, die allgemein gesprochene semitische Sprache des nördlichen mittleren Ostens. Das Totengebet, anders, als die älteren hebräischen Gebete, ist ein Gebet, das jeder verstand.

Was ebenfalls faszinierend an diesem Totengebet ist, es handelt nicht von Trauer! Die Verstorbenen werden in diesem Gebet nicht erwähnt! Es gibt keinen Hinweis auf Kummer oder Traurigkeit oder Tod. Das Kaddisch ehrt G-tt und dankt G-tt für die Erschaffung der Welt. Das Kaddisch nimmt eine Welt des Überflusses und des Friedens für alle vorweg. Und wie die Menschen, die nach dem Begräbnis tanzen und singen, und wie die Worte des Spirituals, erweckt das Sprechen des Gebets Optimismus auf eine goldene Zukunft.

Ich kenne noch einen anderen aramäischen Abschnitt in der jüdischen Liturgie. Sie befindet sich in der Haggadah, dem hebräischen Text, in dem der Ablauf des Sederabends festgelegt ist. Der kurze aramäische Textabschnitt in der Haggadah steht fast am Anfang der Sederordnung. Das Matzen – das ungesäuerte Brot – wird erhoben und der Text beginnt mit den Worten „Ha Lachma Anya“ – dies ist das Brot der Armut.

 Übersetzt lautet die gesamte Textpassage:

„Dies ist das Brot der Armut, das unsere Väter in Ägypten gegessen haben. Wer hungrig ist, komme und esse. Wer in Not ist, komme und feiere Pessach. Dieses Jahr sind wir hier – im nächsten Jahr im Land Israel. Dieses Jahr sind wir Sklaven – nächstes Jahr freie Menschen.“

Meine Freunde, wir haben uns heute hier versammelt um zu trauern und unseren verlorenen Familien und Freunden die Ehre zu erweisen. Doch wenn wir nun die glänzenden Stolpersteine hier in Ulm verlassen, lasst uns an die positiven und optimistischen Passagen des Aramäischen,  des Grundsteins unserer Tradition denken:

Großzügig und barmherzig zu den Bedürftigen zu sein.

Nach einer Welt in Frieden streben.

G-tt für Seine Werke und unser Glück zu danken.

 

Das Kaddisch-Gebet

 

Übersetzung:

Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde.

Sein Reich erstehe in eurem Leben in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, schnell und in nächster Zeit, sprecht Amen.

Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten.

Gepriesen und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, jeder Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprecht Amen.

Fülle des Friedens vom Himmel herab und Leben möge uns und ganz Israel zuteilwerden, sprecht Amen.

Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprecht Amen.

 

Übersetzung des englischen Redetextes ins Deutsche durch Christine Tritsch. Die Übersetzung des Kaddisch-Gebets wurde Wikipedia entnommen.